Der komplette Projektmanager. Roel Wessels
und den Plan bestimmen.
Interessant ist, dass Dave Snowden zwischen einfachen und komplizierten Situationen auf der einen Seite und komplexen und chaotischen Situationen auf der anderen Seite unterscheidet. Bei den einfachen bzw. komplizierten Situationen ist die Lösung nämlich vorab bekannt: einfache Situationen können von jedem gelöst werden, während man für kompliziertere Probleme einen Experten benötigt. So gibt es ein ausreichendes Maß an Berechenbarkeit, um einen Plan erstellen und mit der Projektausführung beginnen zu können.
Bei komplexen und chaotischen Situationen ist dies nicht der Fall, da viele Faktoren unvorhersehbar sind oder sich ständig ändern. Bei komplexen Situationen werden Experimente benötigt, aus denen man lernen kann; routinemäßige Handlungen und bisherige Standardlösungen funktionieren meist nicht. Es besteht eben gerade Bedarf an einer innovativen und kreativen Art und Weise, wie gearbeitet werden soll. Erst probieren, und anschließend einen Plan erstellen. Chaotische Situationen hingegen erfordern sofortiges Handeln. Es herrscht eine Krise und darauf muss akut eingegangen werden, um die Ordnung wiederherzustellen. Anschließend kann untersucht werden, was die richtigen Folgehandlungen sind. Erst handeln und später mit der Definitionsphase beginnen.
Was ich persönlich an dem Modell von Snowden gut finde, ist, dass es meinen gesunden Menschenverstand beim Treffen von Entscheidungen hinsichtlich des Projektansatzes unterstützt. Einfache und komplizierte Projekte sind von Anfang an vorhersehbar und daher planbar. Stecken Sie daher besser alle Energie in das Erhalten der richtigen Informationen oder in die richtigen Experten und nicht in Brainstorming, Experimentieren oder andere Ablenkungen. Und stecken Sie Ihre Energie in das Erhalten eines eindeutigen Bildes mit dem Team. Es gibt immer so viele Hypothesen über den richtigen Weg wie Beteiligte; auch bei vorhersehbaren Projekten! Die Definitionsphase ist eine Frage von harter Arbeit, Kommunizieren, Entscheidungen treffen und sich nicht ablenken zu lassen bis ein Plan vorliegt. Just do it!
Bei komplexen Projekten ist dies anders. Es ist Ihnen selbstverständlich einleuchtend, dass zu dieser Kategorie die meisten Projekte gehören, die sich mit dem Entwickeln von neuen Produkten oder Dienstleistungen beschäftigen. Ebenso wie Projekte, bei denen viele Menschen und verschiedenartige Interessen betroffen sind, wie Reorganisationen und Arbeitsprozessverbesserungen. Zu Beginn dieser Projekte fehlt in der Regel noch das Wissen über die Vorgehensweise und Lösung. Abhängig vom Grad der Komplexität können Sie Unsicherheiten möglicherweise während der Definitionsphase abbauen. So kann beispielsweise eine Machbarkeitsstudie (nach Snowden: Probieren-Wahrnehmen-Reagieren) in kurzer Zeit die erforderliche Klarheit bringen oder die Unsicherheiten eingrenzen. Auf diese Wesie bringen Sie das Projekt, noch bevor Sie Ihr Commitment zeigen müssen, von “komplex” zu “kompliziert.” Ihr Commitment zeigen Sie dann anschliessend auf der Grundlage eines vorhersehbaren Projektverlaufs mit einem klaren Plan für die Ausführungsphase. Bei Projekten mit mehr Unsicherheiten oder Veränderlichkeit ist dies nicht möglich. Bei diesen Projekten beginnt die Projektausführung, während noch signifikante Unsicherheiten bestehen und zum Teil massive Veränderungen zu erwarten sind. Komplexe Projekte benötigen demnach viel Sachverstand und Kreativität vom Projektmanager, der sich dann verstärkt mit dem &-&-& -Paradoxon “Sowohl Unsicherheiten sehen als auch Commitment zeigen” konfrontiert sieht. Dies gilt natürlich in einem noch höheren Maße für Projekte in der chaotischen Domäne.
Abbildung 1.4 Das Cynefin-Modell von Dave Snowden
Abschließend möchte ich Ihnen zwei Besonderheiten, die Dave Snowden mit seinem Modell berührt, nicht vorenthalten. Zunächst kennt das Modell noch eine Klassifikation, nämlich die Unordnung. Eine Situation erhält den Status Unordnung, wenn Sie nicht beurteilen können, in welchem der zuvor genannten Quadranten sich diese befindet. Dies ist eine für den Projekterfolg äußerst gefährliche Situation. Ein Projektmanager, der beispielsweise zu wenig die Regie übernimmt, kann das Projekt in Unordnung enden lassen. Die Projektmitglieder werden in ihre persönlichen Komfortzonen zurückfallen, wobei sie die falschen Entscheidungen treffen, da sie ihre Arbeitsweise nicht dem Problemtypen anpassen. Unordnung können Sie an Aussagen wie “Wir machen das doch immer so” erkennen. Es ist wichtig, bei einer solchen Situation sofort einzugreifen und diese Domäne schnellstmöglich zu verlassen.
Das andere Element ist der besondere Wechsel von einfach zu chaotisch. Dieser wird auch schon einmal der katastrophale Übergang genannt. Organisationen, die systematisch Situationen oder Veränderungen unterschätzen (fälschlicherweise also vereinfachen), können im Chaos versinken. Snowden nennt dies: “Complacency leads to failure”, also “Selbstzufriedenheit führt zum Scheitern”.
1.4 Ein Projektmodell als Aufhänger
In diesem und dem folgenden Abschnitt beschäftige ich mich mit zwei Themen, die für das weitere Buch wichtig sind: ein Modell des Projekts und agiles Projektmanagement. Das Modell des Projekts soll als Orientierungsmittel und Erinnerungsstütze beim Behandeln von neuen Begriffen dienen. Die Agile-Methode ist eine iterative Projektmanagementmethode, die bei der Ausführung von Projekten mit vielen Unsicherheiten und sich verändernden Zielsetzungen hilft. Ich behandele das agile nicht als Gegenspieler zum traditionellen Projektmanagement, sondern - Sie haben es bestimmt schon erraten - wir folgen dem und-und-Weg: Agil zu denken und zu agieren in Kombination mit dem traditionellen Projektmanagement. Dieser Kombination werden Sie auch in multidisziplinären Projekten begegnen, wenn mechanische (Wasserfall) Entwicklung mit (Agile) Softwareentwicklung kombiniert wird.
Die Phaseneinteilung des Projektmodells
In Abbildung 1.5 sind die Projektmanagementelemente wiedergegeben, mit denen die meisten Projekte modelliert werden können. Dieses Modell basiert auf der Richtlinie für individuelle Kompetenz der IPMA, kann jedoch auch hervorragend auf PRINCE2 und den PMBOK Guide von PMI angewendet werden. Das Ziel ist nämlich die Unterstützung bei der Begriffsformulierung und nicht die Durchsetzung von Entscheidungen zugunsten eines bestimmten Verfahrens. In dem verwendeten Modell stehen die Definitionsphase und die Ausführungsphase an zentraler Stelle, die gemeinsam oft als “das Projekt” gesehen werden. In Ihrem eigenen Projekt können diese Phasen natürlich in Teilphasen aufgeteilt werden. Da ich mich in diesem Buch vor allem auf das Entwickeln von neuen Produkten und Dienstleistungen beziehe, habe ich die Ausführungsphase bereits in Teilphasen aufgeteilt: die Entwurfsphase, die Realisierungsphase und die Testphase.
Abbildung 1.5 Ein Modell des Projekts mit den Phasen und Entscheidungspunkten
Das Projektmodell verfügt über zwei zusätzliche Phasen, die formal meist nicht zum Projekt hinzugerechnet werden. Zunächst die Nutzungsphase, die Phase, in der die Projektergebnisse vom Auftraggeber verwendet werden. Diese Phase ist im Allgemeinen kein Teil des Projekts, da das Projekt in der Regel nach der Ausführungsphase abgeschlossen wird. Dennoch ist es für den Projektmanager wichtig, diese Phase auf dem Radar zu haben, da der Auftraggeber in dieser Phase die Projektergebnisse verwendet und erwartet, dass die Projektzielsetzungen realisiert werden. Weiterhin ist es praktisch zu wissen, dass das Projekt meist ab der Nutzungsphase Geld einbringen wird. Die andere zusätzliche Phase ist die Vorbereitungsphase (in PRINCE2 wird diese der Starting-Up-Prozess genannt), eine Phase, mit der wir in diesem Buch noch viel Spaß haben werden! Die Vorbereitungsphase ist ganz bewusst von der Definitionsphase getrennt worden. Warum diese Trennung? Weil der Übergang zur Definitionsphase sehr wichtig ist und weil die Aktivitäten aus der Vorbereitungsphase ansonsten oft vergessen werden.