Der Bergpfarrer Staffel 15 – Heimatroman. Toni Waidacher
Antwort klang auf gewisse Art brutal. Brigitte zuckte unwillkürlich zusammen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Warum bist’ so abweisend?« fragte sie leise. »Ich hab’ gedacht, nach all der Zeit könnten wir ganz normal miteinander reden. Gewiß hab’ ich net erwartet, daß du mir Vorwürfe machst. Mein Gott, Tobias, wir waren jung damals, und ich hatte meine Träume. Hast du eine Ahnung davon, wie es für ein siebzehnjähriges Madl ist, seinen kranken Vater zu pflegen und auf so vieles verzichten zu müssen?
Ja, ich wollt’ fort damals. Unter allen Umständen. Nix hätt’ mich halten können, dem allen zu entfliehen, und ich hätt’ mir gewünscht, daß du mitgekommen wärst. Vielleicht ist es in deinen Augen ein Fehler gewesen, aber ich bereue es net, diesen Schritt getan zu haben.«
Sie stand auf und sah ihm in die Augen.
»Entschuldige, daß ich deine Zeit beansprucht habe«, fügte sie hinzu. »Ich werd’ dich net mehr belästigen.«
Dann ging sie ohne einen weiteren Gruß zum Parkplatz und stieg in ihr Auto. Als sie an ihm vorüber fuhr, stand Tobias immer noch an der Bank und starrte vor sich hin.
*
Aus dem Radio erklang leise Musik. Rosel und Tommy saßen sich gegenüber. Sie hatten sich lange unterhalten. Über Gott und die Welt, dieses und jenes, seinen Beruf, seine Herkunft. Jetzt schwiegen sie. Rosel fröstelte, aber nicht weil ihr kalt gewesen wäre. Es war das erste Mal, daß sie mit einem Mann alleine war. Bisher hatte sie in der Liebe kein Glück gehabt. Als Teenager hatte sie von ihm geträumt, dem Prinzen auf seinem weißen Pferd, der kommen würde, um sie auf sein Schloß zu holen. Aber sie wußte, daß es nur ein Traum war. Das Handicap mit ihrem Bein machte ihr nur zu deutlich bewußt, daß sie nicht die attraktive Frau war, der die Männer nachschauten. Im Gegensatz zu ihrer Schwester hatte Rosel schon früh aufgegeben, sich Illusionen über ihr Leben zu machen. Nach Brigittes Weggang auf sich alleine gestellt, lernte sie rasch, sich einzurichten. Sie hatte ihre Arbeit, verließ selten das Haus und pflegte nur wenig Kontakt mit den Nachbarn.
Eine Verabredung mit einem Mann, ausgehen und sich amüsieren, das hatte es nie gegeben. Als Thomas Berghofer ihr gegenübersaß, da wuchs ihre Unsicherheit mit jeder Sekunde. Fast wäre es ihr lieber gewesen, er wäre mit nach St. Johann gefahren.
Tommy merkte indes schnell, wie sie sich fühlte, und gab sich alle Mühe, unbefangen zu plaudern, und es gelang ihm sogar, ihr die Befangenheit zu nehmen und sie zum Lachen zu bringen, als er Anekdoten aus seinem Leben erzählte.
»Magst’ noch was trinken?« fragte Rosel.
Er nickte und beobachtete sie, wie sie den Wein einschenkte.
»Sag’ mal, hast du eigentlich mal versucht zu tanzen?« fragte er, nachdem sie angestoßen hatten.
Die junge Frau zuckte zusammen und biß sich auf die Lippe.
Was sollte diese dumme Frage?
Er hatte doch gesehen, daß sie das Bein nachzog, wußte doch, daß sie seit dem Unfall hinkte.
Sie wollte schon eine ärgerliche Antwort geben, als er aufstand und sie an die Hand nahm.
»Komm«, sagte er sanft, »wir versuchen es mal.«
Rosel wollte sich wehren, aber ihr Widerstand erlahmte, als sie seine Hände auf ihrem Körper spürte. Ein langsamer Walzer wurde gespielt, und Tommy wiegte sie sanft hin und her.
»Geht doch«, lächelte er. »Ja, so ist es richtig. Zurück und seit und ran und rück und – ja. Du machst das wunderbar.«
Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, das Herz schlug bis zum Hals hinauf, und sie hatte das Gefühl, ihre Beine würden jeden Moment nachgeben.
Tommy schien zu ahnen, was sie dachte.
»Keine Angst«, sagte er leise. »Ich halte dich.«
Sein Gesicht war ganz nah vor ihrem. Sie nahm den Geruch seines Rasierwassers wahr, als er sich zu ihr beugte.
»Weißt du, daß du eine wunderschöne Frau bist?« fragte er in ihr Ohr.
Wieder lief ein wohliger Schauer über ihren Rücken.
Auch wenn sie die Worte nicht glauben mochte, saugte sie jedes seiner Worte begierig in sich auf. Wollte noch mehr davon hören, wollte, daß er weitersprach.
»Rosel«, sagte Tommy zärtlich, »ich habe mich in dich verliebt. Das ist mir noch nie passiert, aber ich find’s wunderschön.«
Er sah sie an und bemerkte die Tränen in ihren Augen.
»Was hast du?« fragte er erschrocken.
»Habe ich etwas Falschen gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum weinst du dann?«
»Es…, es ist nur, weil noch kein Mann mir so etwas Schönes gesagt hat«, schluchzte sie.
Tommy hielt in der Bewegung inne und drückte sie an sich.
»Weil sie allesamt Dummköpfe sind«, lächelte er. »Und nicht sehen, wie wundervoll du bist.«
Ihr Körper schmiegte jetzt sich an ihn.
»Oh, Tommy«, rief sie mit erstickter Stimme, »küß mich. Nur ein einziges Mal möchte ich spüren, wie es ist.«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein«, erwiderte er, »tausendmal sollst du es spüren.«
Vorsichtig berührte sein Mund ihre Lippen. Rosel lag selig in seinen Armen und erwiderte seine Zärtlichkeiten.
»Ich träume«, flüsterte sie, als er sie wieder freigab.
»Nein, kein Traum«, widersprach er. »Das ist das Leben, Rosel, und von jetzt ab sollst du es immer spüren.«
Die Haustür klappte, und sie fuhren auseinander wie zwei ertappte Sünder.
»Ist Brigitte schon zurück?« fragte sie ungläubig.
Sekunden später stand ihre Schwester im Wohnzimmer.
Sie sahen ihrem Gesicht an, daß der Abend nicht so verlaufen war, wie Brigitte es sich erhofft hatte.
»Was ist geschehen?« wollte Rosel wissen.
»Ich möcht’ net darüber reden«, erwiderte die Jüngere. »Morgen vielleicht.«
Sie nickte ihnen zu und ging die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer warf sie sich auf das Bett und starrte an die Decke.
Wenigstens Rosel schien glücklich zu sein, dachte sie.
Jedenfalls war es nicht zu übersehen gewesen, daß es zwischen Tommy und ihrer Schwester gefunkt hatte.
*
Im ›Löwen‹ ging derweil die Gaudi weiter. Alle amüsierten sich, und das Bier floß in Strömen.
Tobias Rauchinger war wohl der einzige, der mit mürrischem Gesicht dasaß und teilnahmslos vor sich hin blickte.
»Mensch, was ist denn los?« fragte Franziska Brandner mehrmals.
Sie saß neben ihm und stieß ihn an.
»Das macht überhaupt keinen Spaß mit dir heut’«, beklagte sie sich. »Hat’s was mit dieser Frau zu tun?«
Er schüttelte unwillig den Kopf, aber sie ahnte, daß sie mit ihrer Vermutung recht hatte. Kurz nachdem die Fremde vom Tisch fortgegangen war, stand Tobias auf und verschwand. Franzi nahm an, er sei an den Tresen gegangen, wo der alte Hubert, sein Knecht, stand und sich mit den anderen unterhielt. Aber als er nach einer langen Zeit nicht an den Tisch zurückkam, war sie selbst nachschauen gegangen und sah ihn gerade wieder zur Tür hereinkommen.
Tobias war also draußen gewesen.
Als sie ihn fragte, antwortete er nicht, und das ging jetzt schon über eine Stunde so. Er saß am Tisch, trank sein Bier und schwieg.