Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
Dann kann ich Sie begleiten.«
»Sie sind sehr nett, Martin, aber ich kann nicht warten. Ich werde sonst verrückt. Seien Sie mir nicht böse. Vielleicht komme ich wieder. Ich mag Sie sehr. Und vielen Dank für alles.«
»Gesa, bitte …«
Aber sie legte auf. Sie hielt es einfach nicht mehr in Bad Kissingen aus. Sie hatte das Gefühl, dass sie erst dann wieder ruhiger werden würde, wenn sie vor dem Grab ihres Sohnes stehen würde. Aber war er nicht schon kurz nach seiner Geburt für sie gestorben? Damals hatte sie sich eingeredet, dass es so gewesen sei. Und wäre Clemens Gerhard Winkler nicht begegnet, hätte sie sich das auch weiterhin eingeredet.
Wäre …, hätte …, dachte Gesa verzweifelt. Sie musste sich mit den Tatsachen abfinden und durfte sich nichts mehr vormachen.
Vom Portier ließ sie sich noch die genaue Lage des Ortes Maibach heraussuchen. Dann fuhr sie los.
*
Gegen Abend war Gesa an ihrem Ziel. Trotz ihrer großen Erregung stellte sie fest, dass die Kreisstadt bemerkenswert war. Der Ort zeigte mittelalterlichen Charakter. Die alten schönen Giebelhäuser auf dem Marktplatz waren renoviert und leuchteten in allen Farben.
Gesa stieg im Gasthof »Zum Bären« ab. Nachdem sie sich gewaschen und umgekleidet hatte, verließ sie das Hotel wieder, um zum Maibacher Krankenhaus zu gehen. Sie hoffte, dass man ihr dort etwas über die Familie Hasler würde sagen können.
Als Gesa das Krankenhaus betrat, bekamen die Patienten gerade das Abendessen. Zögernd trat sie auf eine der älteren Schwestern zu. »Mein Name ist Wendt«, stellte sie sich mit belegter Stimme vor.
»Guten Abend.« Die Augen der Schwester richteten sich fragend auf sie. »Was kann ich für Sie tun?«
»Es handelt sich um den Unfall vor einigen Wochen hier in der Nähe von Maibach. Man sagte mir, dass die ganze Familie ums Leben gekommen sei.«
»Wie hieß sie denn?«
»Hasler. Alfred Hasler mit Frau und Kind.« Das Herz schien Gesa aus dem Hals zu springen, so heftig schlug es vor Erregung.
»Hasler? Sind Sie eine Verwandte der Familie?«, fragte Oberschwester Cecilie.
»Ich bin … Das heißt, ich war mit der Familie befreundet.« Gott verzeih mir diese Lüge, flehte sie innerlich.
»Es sind nicht alle drei bei dem Unfall ums Leben gekommen, Fräulein Wendt.«
»Frau Wendt«, verbesserte Gesa automatisch. Dabei konnte sie aber nur denken, es sind nicht alle umgekommen. Vielleicht hat Andreas das Unglück überlebt? Vielleicht liegt er hier im Krankenhaus? Vielleicht konnte sie …
»Wer hat es überlebt?« Wie ein Hauch kam diese Frage über ihre Lippen.
»Das Kind.«
»Das Kind?«, wiederholte Gesa. Die Wände schienen auf sie zuzukommen. Sie schwankte leicht.
»Ist Ihnen nicht gut?«
Die Stimme der Schwester kam wie aus unendlicher Ferne zu ihr.
»Es ist nichts. Wirklich nichts.« Gesa atmete einmal tief durch. »Ich bin vielleicht ein wenig überanstrengt. Wie geht es Andreas?«
»Er hatte einen Armbruch und einen Beinbruch. Soviel ich weiß, geht es ihm blendend.«
»Dann ist er nicht mehr hier?«
»Nein, er ist seit einigen Wochen im Kinderheim Sophienlust. Nicht wahr, er hat keine Verwandten mehr?«
»Ich weiß das nicht genau. Wo ist denn das Kinderheim?«
Die Oberschwester erklärte ihr die Lage von Sophienlust.
»Vielen Dank, liebe Schwester. Vielen Dank.« Gesa reichte ihr die Hand. »Ich möchte Sie nun nicht weiter aufhalten. Auf Wiedersehen.«
»Auf Wiedersehen, Frau Wendt. Und alles Gute.« Kopfschüttelnd blickte die Oberschwester der jungen Frau nach. Etwas später sagte sie zu Schwester Eva: »Soeben war eine gewisse Frau Wendt bei mir, die sich nach Andreas erkundigt hat. Als ich ihr sagte, dass er am Leben sei, wurde sie zuerst fast ohnmächtig. Dann haben ihre Augen so gestrahlt, als habe man ihr die schönste Nachricht in ihrem ganzen Leben übermittelt. Sie hat sich ganz so benommen, als wäre sie Andreas’ Mutter.
*
Gesa hätte am liebsten die ganze Welt umarmt, als sie durch die Straßen von Maibach ging. Aber sie hatte keinen Menschen, dem sie diese unfassbare Botschaft anvertrauen konnte. Plötzlich aber erinnerte sie sich an Martin. Ja, sie wollte ihn gleich anrufen und ihm erzählen, dass Andreas lebte.
Im Gasthof »Zum Bären« wählte sie die Telefonnummer seiner Wohnung. Martin war daheim.
»Nett, dass Sie anrufen«, erwiderte er, als sie ihren Namen genannt hatte. »Wie geht es Ihnen?«
»Martin, ich wünschte mir so sehr, dass Sie jetzt bei mir wären!«, rief sie impulsiv. »Ich bin so glücklich. Stellen Sie sich vor, Andreas hat das Unglück überlebt. Er befindet sich zurzeit in einem Kinderheim. Und morgen fahre ich hin.«
»Der kleine Andreas lebt? Wie schön.« Martin atmete hörbar auf. »Ich habe ihn doch von klein auf betreut. Richtiger gesagt, seit zwei Jahren. Die Familie Hasler gehörte zu meinen ersten Patienten in Kissingen. Andreas ist ein reizendes Kind. Sehr sensibel.«
»Hat er sehr an seinen Eltern gehangen?«
»Er hat seine Mutter angebetet und seinen Vater vergöttert. Die Haslers haben das Kind sehr geliebt. Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass Andreas ihr Adoptivsohn ist.«
»Armer kleiner Junge.«
»Was werden Sie tun, Gesa?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich bin so durcheinander, dass ich noch immer keinen klaren Gedanken fassen kann. Erst einmal möchte ich den Jungen sehen.«
»Rufen Sie mich morgen wieder an, Gesa?«
»Das verspreche ich Ihnen, Martin. Nun, da ich mit Ihnen gesprochen habe, ist mir schon leichter. Bis morgen, Martin.«
»Bis morgen, Gesa. Schlafen Sie gut.«
»Sie auch.« Gesa legte auf. Dann verließ sie die Telefonzelle. Auf einmal stellte sie fest, dass sie Hunger hatte. Sie ging in die Gaststube und bestellte sich ein komplettes Essen. Dazu trank sie Bier, weil sie hoffte, dass es beruhigend auf ihre aufgepeitschten Nerven wirken werde.
Erst als Gesa im Bett lag, dachte sie wieder an Clemens. Sollte sie ihn morgen anrufen und ihm von Andreas erzählen? Vielleicht bereute er schon längst, dass er so hässlich zu ihr gewesen war. Vielleicht …
Gesa zwang sich, vernünftig zu bleiben. Wieder nahm sie eine Schlaftablette, deren Wirkung nicht lange auf sich warten ließ.
*
Das laute Krähen eines Hahnes weckte Gesa am nächsten Morgen. Noch halb benommen von der Tablette stieg sie aus dem Bett und zog die buntbedruckten Vorhänge zurück. Unter dem Fenster pickten Hühner eifrig Körner auf. Ihr Herr und Gebieter, ein prachtvoller Hahn mit schillerndem Gefieder, stand hoch oben auf dem Misthaufen und krähte seine Lebensfreude hinaus.
Gesa blickte auf ihre Armbanduhr. Es war noch nicht einmal sechs. An Schlaf war bei ihr natürlich jetzt nicht mehr zu denken. Darum kleidete sie sich an und verließ kurz darauf das Zimmer.
Eine ältere Frau wusch den Boden der Gaststube. Bei Gesas Anblick hielt sie in ihrer Arbeit inne. »Guten Morgen«, sagte sie freundlich. »Um diese Zeit gibt es noch kein Frühstück.«
»Das macht nichts. Ich wollte Sie nur fragen, wie ich nach Sophienlust komme.«
»Sophienlust …, es ist ein sehr schönes Kinderheim. Die Leute nennen es auch das Kinderparadies.«
»Dann geht es den Kindern dort gut?«
»Gut ist gar kein Ausdruck dafür. Sie leben dort wie in einer großen Familie, und