Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
rief er. »Ich habe solche Sehnsucht nach dir gehabt. Bist du wieder gesund?«
Gesa vergaß alles um sich herum. Sie herzte und küsste ihren Sohn. Endlich beruhigte sie sich und stellte ihn auf seine Beine. »Du bist gewachsen, Oliver«, stellte sie mit strahlenden Augen fest.
»Nicht wahr, Mutti?« Er reckte seine Gestalt. »Ich bin bald so groß wie Andreas. Ist Vati auch mitgekommen?«, fragte er und blickte sich suchend um.
»Nein, Oliver.« Gesa dachte nun erst an Clemens, der gewiss nicht mit ihrem Besuch einverstanden sein würde.
»Mutti, ich hole Andreas!«, rief Oliver selig. »Er soll dich kennen lernen. Er ist mein allerbester Freund. Er hat keine Eltern mehr. Sie sind mit dem Auto verunglückt. Nicht wahr, du bist lieb zu ihm? Er wird dann bestimmt nicht mehr traurig sein. Ich bin nun auch nicht mehr traurig, weil du wieder bei mir bist. Ich suche jetzt Andreas.«
»Oliver, so warte doch …«
Aber dieser hörte sie schon nicht mehr. Er sauste davon.
Gesas erster Impuls war, davonzulaufen und sich für ein Weilchen zurückzuziehen, um sich innerlich für das erste Zusammentreffen mit Andreas zu sammeln. Aber sie war viel zu verwirrt, um irgendetwas tun zu können. Sie setzte sich wieder und faltete die Hände. Die Stille, die sie plötzlich umgab, gab ihr das Gefühl, alles nur zu träumen.
Denise kehrte zurück und erklärte: »Ich kann Oliver nirgends finden.«
»Ich habe ihn schon gesehen. Er sucht jetzt nach seinem Freund Andreas.«
»Andreas Hasler hat seine Eltern verloren. Oliver und er sind Freunde geworden. Ihr Sohn hat viel dazu beigetragen, dass Andreas seinen Schock überwunden hat.«
»Mein kleiner Oliver«, flüsterte Gesa. Sollte sie sich Frau von Schoenecker anvertrauen und ihr den wahren Grund ihres Besuches hier erzählen, fragte sie sich.
»Mutti, das ist Andreas!«, rief Oliver in diesem Augenblick selig. »Schau, Andreas, und das ist meine liebe Mutti. Mutti, ich habe jeden Abend zum lieben Gott gebetet und mir gewünscht, dass du bald zu mir kommst.«
Gesa achtete nicht auf Olivers Worte. Sie konnte nur Andreas ansehen. Alles in ihr verlangte danach, ihn in die Arme zu nehmen und zu küssen. Aber sie wagte es nicht. »Also, du bist Olivers bester Freund«, stellte sie mit belegter Stimme fest.
»Ja, der bin ich.« Andreas hatte auf einmal einen ganz dicken Kloß im Hals stecken. Warum war seine Mutter gestorben, fragte er sich verzweifelt. Auch sein Vati kam nie mehr zu ihm. Und nun war Olivers Mutti gekommen, um ihn aus Sophienlust abzuholen.
»Mutti, wir können doch Andreas mit zu uns nach Hause nehmen«, schlug Oliver mit einem flehenden Blick auf seine Mutter vor. »Dann brauchen wir uns nicht zu trennen.«
Clemens hat Oliver also noch nichts von der bevorstehenden Scheidung erzählt, dachte sie erleichtert. Mehr denn ja war sie nun entschlossen, sich nicht scheiden zu lassen.
»Das muss Vati entscheiden«, erwiderte sie ernst und richtete ihre Augen auf Andreas. Dabei stellte sie fest, dass er Oliver glich. Ja, zwischen den beiden Jungen bestand eine gewisse Ähnlichkeit.
»Mutti, wir können Vati doch anrufen«, meinte Oliver, denn auch er wollte sich nicht von seinem Freund trennen.
»Lass nur, Oliver«, sagte Andreas leise. »Ich komme gleich wieder!«, rief er und lief davon.
Gesa wollte ihm nachlaufen, aber Denise hielt sie davon ab. »Lassen Sie nur, Frau Wendt. Andreas ist natürlich traurig, dass Oliver nun bald das Kinderheim verlassen wird.«
Gesa blieb ihr darauf die Antwort schuldig, weil sie selbst keine Ahnung hatte, was nun geschehen würde. Durfte sie Oliver einfach mitnehmen? Sie hatte nicht einmal eine Wohnung. Vernünftiger war es wohl, dass der Junge vorläufig noch im Kinderheim blieb.
Und Andreas? Was sollte mit ihm geschehen? Eines stand jedoch für Gesa bereits fest. Sie würde alles daransetzen, Andreas zu bekommen. Eigentlich dürfte es in dieser Beziehung keine Schwierigkeiten mehr geben. Nun, da seine Adoptiveltern tot waren, war der Weg zu ihm für sie frei.
Denise lud Gesa ein, doch für ein paar Tage in Sophienlust zu bleiben.
Oliver klatschte vor Freude in die Hände. »Fein, Tante Isi. Dann kann ich wieder jeden Morgen zu Mutti ins Bett kriechen. Du, Mutti, schenkst du mir auch einen Stupsi?«
»Einen Stupsi?«
»Ja, Mutti, das ist ein wunderschöner Teddybär. Aber er gehört Tante Isi und muss im Kinderheim bleiben, weil sie ihn für alle traurigen Kinder gekauft hat. Sie werden durch ihn fröhlich. Soll ich Stupsi mal holen?«
»Ja, Oliver. Ich mache mir um Andreas Sorgen«, wandte sie sich an Denise. »Er sah so merkwürdig aus.«
»Er ist gewiss zu den Kindern gelaufen. Zuerst wollten sie zum See gehen, dann haben sie sich entschlossen, zu den Pferden und Ponys zu laufen.«
»Du, Mutti, komm doch mit zu den Ponys«, bat Oliver sofort. »Ich kann schon reiten. Ich …«
Gesa sah Denise entsetzt an. »Ist Oliver denn nicht zu klein zum Reiten?«
»Aber nein. Unter unseren Ponys gibt es sehr sanfte betagte Pferdchen. Sie sind Kinder von klein auf gewöhnt. Oliver, ich glaube, wir zeigen deiner Mutti zuerst ihr Zimmer, damit sie sich ein wenig einrichten kann.«
»Aber ich bleibe bei meiner Mutti«, bestimmte der Kleine energisch und griff nach Gesas Hand.
Gesa sagte zu allem ja und amen. Sie befand sich in einem unbeschreiblichen Zustand. Die Ereignisse hatten sie ganz einfach überrollt. Sie brauchte ein wenig Zeit, um wieder einigermaßen klare Gedanken fassen zu können.
*
Andreas war nicht zu den anderen Kindern gelaufen. Er hatte sich ein Kinderrad aus dem Schuppen geholt und radelte nun nach Bachenau zum Tierheim. Er kannte den Weg schon genau. Außerdem führte die Straße direkt zum Tierheim hin.
Während der Junge fest in die Pedale trat, kullerten ihm helle Tränen über die Wangen. Immer wieder fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und zog die Nase hoch.
Nun würde er wieder allein sein. Oliver würde mit seiner Mutti nach Hause fahren. Er aber hatte niemanden mehr, der ihn abholen würde. Es war ja ganz schön in Sophienlust, aber ohne Oliver würde er sich hier sehr einsam fühlen.
Wieder zog Andreas die Nase hoch. Da vorn waren schon die ersten Häuser von Bachenau. Kurz darauf bog er in die Seitenstraße ein, in der Andrea und Hans-Joachim von Lehn wohnten. Andreas wollte zur Tante Andrea. Sie war immer so lieb zu ihm. Plötzlich wünschte er sich, für immer bei ihr bleiben zu dürfen. Ja, er wollte sie darum bitten, nahm er sich vor.
Andreas lehnte sein Fahrrad an die Hauswand und läutete dann. Betti öffnete ihm und fragte erstaunt: »Wo kommt du denn her? Du siehst ja ganz verstört aus. Bist du allein?«
»Ja, Betti. Ich möchte zu Tante Andrea«, bat Andreas leise.
»Sie ist leider nicht da, mein Junge. Sie hat den Herrn Doktor nach Frankfurt begleitet. Möchtest du nicht trotzdem hereinkommen und Peterle besuchen?«
»Später, Betti. Ich lauf’ mal schnell zu Herrn Koster hinüber. Ist der Gepard schon da?«
»Noch nicht. Er wird erst morgen erwartet. Dadurch konnte der Herr Doktor auch heute fortfahren. Sollte es etwas Dringendes in der Praxis geben, kann das auch Herr Koster erledigen. Er ist ja bereits ein halber Doktor geworden.«
Andreas hörte ihre letzten Worte nicht mehr. Er schien es sehr eilig zu haben, zum Tierheim zu kommen. Die vier Dackel liefen fröhlich bellend hinter ihm her, als er den Vorplatz überquerte.
Betti schloss die Haustür wieder, um zu Peterle zurückzukehren, der ungeduldig auf seine Flasche wartete.
*
Andreas öffnete die Tür des Tierheims und steckte seinen Kopf hinein. »Herr Koster!«, rief er. »Ich bin da! Der Andreas!«