Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
mit der Heimleiterin.«
»Das ist Frau Rennert.« Die Aufwartefrau erzählte Gesa nun ausführlich von Sophienlust. Dann erklärte sie ihr den Weg dorthin.
Vom Kirchturm ertönten sieben Schläge, als Gesa Maibach mit ihrem Auto verließ und die Richtung nach Bachenau einschlug. Noch lag der Tau auf den Wiesen, und zwischen den Laubbäumen hingen Nebelschwaden. Sommerwölkchen flogen über den Himmel, der mit den sanften Hügeln zu verschmelzen schien.
Gesa fuhr sehr langsam. Dabei malte sie sich das erste Zusammentreffen mit ihrem unbekannten Sohn aus. In ihrer freudigen Erregung vergaß sie ganz, dass Andreas keine Ahnung hatte, wer sie war. In ihr lebte nur die Hoffnung, ihr Kind an ihr Herz drücken zu können. Da Andreas jedoch nun keine Adoptiveltern mehr hatte, bedeutete das, dass sie ihn zurückbekommen konnte.
*
In den Ferien wurde meist erst gegen acht Uhr in Sophienlust gefrühstückt. Das hieß aber nicht, dass die Kinder deshalb später aufstanden. Sie trödelten nur mehr als während der Schulzeit.
Um diese frühe Morgenstunde herrschte in dem großen Haus bereits lebhaftes Treiben. Frau Rennert und Schwester Regine hatten alle Hände voll zu tun.
»Wisst ihr was?«, rief Pünktchen fröhlich. »Wenn das Wetter so schön bleibt, gehen wir am besten zum Waldsee schwimmen. Wir können dort auch die Schwäne und Enten füttern.«
»Ja, fein.« Vicky klatschte in die Hände. »Die Schwäne haben sechs Kinder.«
»Aber sie sind böse«, stellte Fabian fest. »Wenn man nur in die Nähe der kleinen Schwäne kommt, fauchen sie wie Wildkatzen.«
»Ich möchte aber lieber zum Tierheim fahren«, sagte Oliver.
»Ich auch!«, rief Heidi. »Onkel Hans-Joachim hat doch gestern gesagt, dass er einen Gepard erwartet, der einen bösen Zahn hat.«
»Das stimmt.« Irmela Groote, das älteste Mädchen in der Kinderschar, kam aus ihrem Zimmer. Sie trug genauso wie die kleineren Kinder Jeans und einen ärmellosen Pulli. »Der Gepard gehört einer Schauspielerin, die ganz in der Nähe von Bachenau eine Traumvilla besitzt. Nick hat es gestern erzählt.«
»Hoffentlich kommt Nick gleich nach dem Frühstück nach Sophienlust.« Das war wieder Pünktchen.
»Er und Henrik kommen ganz bestimmt«, beruhigte Schwester Regine die Zwölfjährige, die mit kindlicher Liebe an ihrem großen Freund hing.
»Ein Auto kommt!«, rief nun der elfjährige Christof Arndt.
»So früh?« Pünktchen lehnte sich aus dem Gangfenster. »Es fährt vorbei. Nein, es hält und wendet. Ich glaube, da hat sich jemand verfahren.«
Oliver blickte ebenfalls aus dem Fenster. »Meine Mutti hat auch so einen gelben Wagen«, stellte er fest. »Vielleicht ist es meine Mutti.« Ein Hoffnungsschimmer leuchtete in seinen Augen auf.
»Es gibt viele solche Autos«, meinte Andreas. »Und es fährt ja auch wieder fort.«
»Habt ihr die Autonummer lesen können?«
»Nein, das war unmöglich.« Christof schüttelte den Kopf. »Wann gibt es denn endlich Frühstück? Ich habe schon großen Hunger.«
»Vielleicht macht Magda das Frühstück heute etwas früher. Ich werde sie mal fragen«, erklärte Heidi und lief schon die Treppe hinunter.
*
Der Wagen, den Christof Arndt gesehen hatte, gehörte tatsächlich Gesa. Sie hatte nach einem Blick auf die Uhr auf dem Armaturenbrett festgestellt, dass es für einen Besuch in dem Kinderheim noch zu früh war, und war wieder weggefahren. Sie wollte noch eine Stunde warten. Und da sie sich nach einer guten Tasse Kaffee sehnte, fuhr sie zuerst nach Wildmoos. Dort fand sie aber kein offenes Lokal. Deshalb schlug sie den Weg nach Bachenau ein.
Kurz vor dem Ort bremste Gesa ihren Wagen ab und hielt an, um ein kleines Eselsgespann zu bewundern. In dem zweirädrigen Wagen saß ein junger Mann. Neben dem auffallenden Gefährt lief ein so winziges Pferdchen, dass Gesa einen Moment glaubte, eine Halluzination zu haben. Dann kam sie zu dem Schluss, dass hier ganz in der Nähe ein Wanderzirkus sein müsse.
In Bachenau fand Gesa ein kleines Café, das schon geöffnet hatte. Dort bekam sie einen erstaunlich guten Kaffee.
Während sie so langsam wie möglich frühstückte, blickte sie immer wieder auf ihre Armbanduhr. Die Zeit schien im Schneckentempo dahinzukriechen. Endlich entschloss sie sich, wieder nach Sophienlust zurückzufahren. Diesmal fuhr sie durch das offen stehende hohe Tor und parkte hinter einem anderen Wagen vor der Freitreppe.
Als Gesa ausstieg, erblickte sie gerade noch den Rücken einer schlanken schwarzhaarigen Dame, die eben das Haus betrat. Sehr langsam stieg Gesa die Stufen der Freitreppe hinauf und läutete nach einem tiefen Atemzug am Portal.
Ein Hausmädchen in einem kornblumenblauen Leinenkleid und einer weißen Schürze öffnete ihr.
»Ich möchte bitte die Heimleiterin sprechen«, bat Gesa erregt. Dabei fuhr sie sich über die trockenen Lippen.
»Möchten Sie zu Frau Rennert oder zu Frau von Schoenecker?« Ulla sah sie neugierig an.
»Zu Frau von Schoenecker.«
»Sie haben Glück. Sie ist soeben mit ihren beiden Söhnen aus Schoeneich eingetroffen. Bitte, kommen Sie doch weiter«, forderte Ulla die hübsche dunkelhaarige Frau freundlich auf. »Ich melde Sie sofort an. Wie war Ihr Name doch gleich? Ich habe ihn nicht verstanden.«
»Wendt. Frau Wendt.«
Ulla zuckte zusammen. Ob sie Olivers Mutter war, fragte sie sich. Doch das hielt sie für ausgeschlossen. Sonst hätte sie gewiss zuerst nach Oliver gefragt.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz«, bat Ulla in der Halle. »Die Kinder haben vor ein paar Minuten das Haus verlassen und sind in den Park gelaufen«, erläuterte sie noch, um Gesa aus der Reserve zu locken. Sie war inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei ihr doch nur um Olivers Mutter handeln könne. Aber die Besucherin stellte keine Fragen nach dem Jungen.
Gesa war allein. Sie war viel zu aufgeregt, um sich für ihre Umgebung zu interessieren. Gespannt wartete sie.
Gesa brauchte nicht lange zu warten. Denise kam bald mit Ulla zurück. Während das Mädchen die Treppe hinauflief, wandte sich Denise mit einem freundlichen Lächeln an die frühe Besucherin. Sie nannte ihren Namen und musterte Gesa gespannt.
»Ich bin Frau Wendt. Gesa Wendt. Ich …«
»Also, dann sind Sie doch Olivers Mutter. Gesa ist ein seltener Vorname. Er …«
»Oliver?«, unterbrach Gesa sie erregt. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Oliver hier ist?«
»Natürlich ist er hier. Ich dachte, Sie wüssten das, weil Sie doch hergekommen sind.« Denise erwiderte den Blick der jungen Frau erstaunt.
»Ich wusste es nicht, aber ich hoffte es.« Gesa war froh, dass ihr diese Ausrede so schnell eingefallen war. »Ich habe Oliver gesucht, weil mein Mann mir nicht die Adresse sagen wollte. Ich …«
Gesa war nun völlig durcheinander. Was hatte das Schicksal nur mit ihr vor, fragte sie sich. Dass ihre Kinder im gleichen Kinderheim waren, hatte etwas so Phantastisches an sich, dass sie kaum noch an einen Zufall glauben konnte. Aber durfte sie jetzt noch sagen, dass ihr eigentlicher Besuch Andreas Hasler gegolten hatte, dass dieser ihr unehelicher Sohn war?
Denise entging nicht die Verwirrung ihrer Besucherin. Ob sie Oliver hinter dem Rücken ihres Mannes besuchte?, überlegte sie.
»Oliver hat große Sehnsucht nach Ihnen gehabt, Frau Wendt«, berichtete Denise. »Täglich spricht er von Ihnen. Ich werde ihn rufen lassen.«
Gesa konnte nur nicken. Die Erschütterung war zu groß für sie. Sie sank wieder auf einen der Sessel, als Denise sie für einige Minuten allein ließ.
Als sie schnelle Schritte auf der Treppe hörte, drehte sie sich um und erblickte ihren kleinen Oliver.