Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
ruf den Arzt, Paps«, keuchte Nanni. »Er soll schnell kommen.«
Friedrich von Willbrecht bekam keine Verbindung. Die Leitung war tot.
»Dieser verfluchte Schneesturm«, sagte er. »Mein Bein hat schon den ganzen Tag rebelliert.«
Annemarie von Willbrecht begann mit zitternden Händen das Kind zu entkleiden. Da kam auch Denise, schon im Nachthemd und Morgenmantel.
»Ich hole Dr. Hellmers«, sagte Nanni. »Wer weiß, wie lange Rubinchen schon dort lag.«
»Wir werden sie versorgen«, sagte Denise tröstend. »Ein wenig verstehe ich von Erster Hilfe.«
»Nimm Pipp mit«, rief Friedrich von Willbrecht seiner Tochter nach, aber das war gar nicht notwendig, denn Pipp war schon wieder an der Tür.
Nanni kämpfte sich durch die Schneemassen, die innerhalb weniger Stunden vom Himmel gefallen waren. Glücklicherweise hatte sie den Wind im Rücken. Mit dem Auto wäre sie wahrscheinlich noch langsamer vorangekommen oder ganz stecken geblieben.
Sie erreichte schließlich das Arzthaus und läutete, doch niemand meldete sich. Es war still und dunkel.
Fieberhaft arbeiteten ihre Gedanken. Dr. Belling wohnte mitten im Ort. Wenn sie ihn nun auch nicht erreichte? Sie tastete sich an den Häuserwänden entlang.
Aus der Bongo-Bar schallten Tanzrhythmen und wiesen ihr den Weg zu Dr. Bellings Haus, als sie schon fast nichts mehr sehen konnte, so sehr tränten ihre Augen von dem so scharfen Wind und dem aufwirbelnden Schnee.
Und dann vernahm sie eine ihr wohlbekannte Stimme. »Natürlich geht das in Ordnung, Mr Miles. Am Montag können wir fliegen.«
Nanni drückte sich instinktiv an die Hauswand. Pipp, so weiß wie der Schnee, hockte sich neben sie und war ohnehin nicht zu unterscheiden.
Lilo und Gordon Miles standen im Eingang der Bongo-Bar. »Das ist ja teuflisch«, sagte Gordon Miles. »Da hetzt man keinen Hund auf die Straße. Kommen Sie, Lilo, wir trinken noch einen. Grund haben wir ja.«
Ich müsste es ihr sagen, wie wir Rubinchen gefunden haben, dachte Nanni, aber dann stieg kalter Groll in ihr empor. Lilo hatte Rubinchen allein gelassen. Sie feierte, während das Kind fast erfror. Sie sollte ihre Strafe bekommen.
Wenig später drückte Nanni auf die Klingel unter dem Namen Dr. Belling, und diesmal wurde ihr geöffnet. Der junge Arzt, der sich erst vor ein paar Monaten hier niedergelassen hatte, war eben erst von einem Krankenbesuch zurückgekommen, und sein Wagen, der mit Schneeketten ausgerüstet war, war noch warm. Pipp weigerte sich allerdings, ihn zu besteigen.
»Er meint wohl, dass er auf seinen vier Beinen schneller heimkommt«, sagte Nanni. So war es dann auch. Pipp stand schon schwanzwedelnd an der Gartenpforte, als sie eintrafen.
*
Rubinchen kehrte aus einer fernen Welt, die kalt und dunkel gewesen war, in die Wirklichkeit zurück. Alles war noch verschwommen, und die Stimmen, die sie vernahm, klangen fremd. Sie wusste nicht, wo sie sich befand, und konnte sich an nichts erinnern.
Es dauerte einige Zeit, bis sie die verschiedenen Stimmen unterscheiden konnte, und ihr kleines Herz begann schneller zu klopfen, als sie die Nannis erkannte.
»Sie kommt jetzt zu sich«, sagte eine Männerstimme. »Anscheinend ist sie mit dem Kopf auf einen Stein oder eine Eisplatte aufgeschlagen. Das kann einen vorübergehenden Gedächtnisschwund zur Folge haben.«
»Sie meinen, dass sie sich an nichts mehr erinnern kann, Dr. Belling?«, fragte Nanni, und diese Bemerkung setzte sich in Rubinchens Köpfchen fest. Ihr Kopf tat wirklich furchtbar weh.
»Das Knie sieht böse aus«, fuhr der junge Arzt fort. »Nun, wir werden die nächsten Tage abwarten müssen. Vielleicht wäre es besser, das Kind in die Klinik zu bringen, Fräulein von Willbrecht.«
»Nein, sie bleibt hier«, erklärte Nanni entschlossen. »Ich kann sie pflegen.«
Rubinchen hörte alles ganz deutlich. Hoffentlich merkte man das nicht, denn sie wollte gern noch mehr erfahren.
»Die Angehörigen werden wohl die letzte Entscheidung haben«, sagte Dr. Belling. »Sind Sie eigentlich schon verständigt?«
»Der Vater des Kindes befindet sich in der Türkei«, sagte Nanni. »Sie ist hier bei ihrer Tante, und wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf, ist sie kaum fähig, ein krankes Kind zu betreuen. Deutlicher gesagt, ich gebe ihr an allem die Schuld.«
Nanni erzählte, was sie beobachtet und miterlebt hatte. Sie nahm kein Blatt vor den Mund.
»Es ist mir ganz gleich, was es für Folgen für mich hat«, sagte sie, »aber
Rubinchen steht jetzt unter meinem Schutz, bis Herr Campen seine Entscheidung trifft. Ich habe ihm bereits geschrieben.«
Nanni hat an Daddy geschrieben, dachte Rubinchen, und das ließ ihren Puls schneller schlagen.
Dr. Belling hielt seine Finger um das schmale Handgelenk des Kindes gespannt.
»Hallo, kleines Fräulein, hörst du mich?«, fragte er.
Rubinchen blinzelte. »Wer bist du?«, fragte sie.
»Dr. Belling.«
Nannis Gesicht war jetzt dicht über ihr, und am liebsten hätte Rubinchen ihre Arme um Nannis Hals gelegt, aber sie hatte sich bereits eine Rolle ausgedacht, die ihr Verbleiben in diesem Hause rechtfertigen konnte.
»Rubinchen, kennst du mich nicht?«, fragte Nanni ängstlich.
»Nein«, stieß Rubinchen hervor. »Wo bin ich denn?«
»Bei uns. Pipp hat dich im Schnee gefunden«, sagte Nanni gepresst.
»Pipp?«, flüsterte Rubinchen. »Wer ist Pipp?«
Angstvoll schaute Nanni Dr. Belling an.
»Sie erinnert sich wirklich nicht«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen.
»Das Erinnerungsvermögen wird schon wiederkommen«, sagte er tröstend. »Das Kind braucht jetzt Ruhe und Schlaf. Es fiebert. Sie übernehmen da eine große Verantwortung, Fräulein von Willbrecht.«
»Sie wird mich nicht erdrücken«, erwiderte Nanni ruhig. »Das Wohlergehen des Kindes liegt mir am Herzen. Sie können Fräulein Lüdke unterrichten, wo Rubinchen sich befindet. Ach ja, sie legt Wert darauf, Frau Lüdke genannt zu werden«, fügte sie sarkastisch hinzu.
Erstaunt sah er sie an. »Vielleicht informieren Sie mich doch ein bisschen eingehender«, sagte er. »Ich denke, unsere kleine Patientin wird jetzt wieder schlafen. Erfrierungen sind glücklicherweise nicht erkennbar.«
Er bedeutete Nanni, dass er sich lieber draußen mit ihr unterhalten wolle. Pipp schob sich zur Tür herein und trottete zum Bett.
Gemächlich ließ er sich davor nieder und legte seinen Kopf auf die Vorderpfoten.
Rubinchen hätte sich nun doch beinahe verraten, so sehr freute sie sich, dass Pipp zu ihr kam, aber schnell zog sie ihre kleine Hand, mit der sie seinen Kopf streicheln wollte, wieder zurück. Doch Nanette hatte es gesehen und machte sich ihre Gedanken darüber. Geistesabwesend folgte sie dem jungen Arzt in die Diele.
»Kommen Sie doch bitte hier herein«, forderte sie ihn auf, und sie betraten das Wohnzimmer. Im Kamin flackerte noch ein helles Feuer.
»Ich bin durchgefroren«, sagte Nanni. »Unser Telefon ist gestört. Der Schneesturm ist wohl schuld daran.«
»Es wäre nicht auszudenken, was dem Kind geschehen wäre, hätte Ihr Hund es nicht gefunden«, sagte Dr. Belling.
»Er hat Erfahrung«, erklärte Nanni beiläufig. »Bei dem Lawinenunglück, das wir vor zwei Jahren hatten, rettete er drei Menschen, die schon aufgegeben worden waren. Er kennt Rubinchen.«
Dr. Belling beobachtete das junge Mädchen forschend. Sie gab ihm Rätsel auf. Die leidenschaftliche Anteilnahme, die sie dem Kind entgegenbrachte, stand