SHEPHERD ONE (Die Ritter des Vatikan 2). Rick Jones
angehörte oder nicht. Bei einem solchen Geldbetrag konnte man jedwede Vorurteile außer Acht lassen. Pertschenko hatte die Auseinandersetzungen in Afghanistan Knall auf Fall als vage Erinnerung in seinen Hinterkopf verbannt.
Ein halbes Jahr nach jenem Handel in Russland fand sich der Terrorist nun jedoch in Rom wieder, wo er sich um Druckmittel zur Einleitung der nächsten Phase seines Unterfangens bemühte, indem er eine Einheimische und ihre Kinder in seine Gewalt brachte. Er ließ sie nach Perugia entführen und in einer verlassenen Lagerhalle verstecken, die in Sichtweite der Moschee Ponte Felico stand.
Nach seinem kurzen Aufenthalt in Italien kehrte Hakam in die Vereinigten Staaten zurück. Kürzlich war ihm durch seine Kontakte zu Ohren gekommen, dass die Gruppe an der mexikanischen Grenze zu Arizona nicht ins Land gelangt sei. Den beiden anderen war es aber gelungen, was er für sich genommen als erfreuliche Nachricht auffasste.
Nachdem er ein frisch gebügeltes Hemd übergestreift hatte, machte er sich weiter vor dem Spiegel zurecht. Bewegte er seine rechte Hand beim Zuknöpfen, tat es sein Abbild mit links. Zog er den linken Mundwinkel zum Ansatz eines Lächelns hoch, geschah es vor ihm wiederum spiegelverkehrt. Alles – Bewegungen, Marotten und sein Mienenspiel – spielte sich zeitgleich andersherum ab. Als er einen letzten Blick auf sein Äußeres warf, kam er sich selbst jugendlich unschuldig vor.
Perugia, Italien | 09:30 Uhr
Die vielen Schatten ringsum – es waren nicht ihre eigenen – schienen in diesem Raum, wo es stickig war vor Staub in der Luft und grabähnlicher Feuchtigkeit, immerzu an- und abzuschwellen. Irgendwo tropfte Wasser aus einem Rohr oder undichten Hahn und bildete übelriechende Pfützen voller Bakterien, über die Vittoria Pastore gar nicht erst nachdenken wollte.
Drei Tage lang steckte sie nun schon mit ihren Kindern hier drin. Kaltblaues Licht fiel durch dünne Schlitze zwischen den Brettern vor den Fenstern. Die Wände bestanden aus Wellblech, das mit einem Stahlrahmen vernietet war, und die massive Tür verfügte über eine Klappe an der Unterseite, durch die sie Nahrung, Wasser und gelegentlich eine saubere Decke gereicht bekamen.
Vittoria blieb die ganze Zeit über stark, während sie gemeinsam mit ihren Töchtern auf einer Pritsche kauerte und sanft ihre Köpfe streichelte, wobei sie sich jeden Tag fragte, ob dies ihr letzter sein würde.
Basilio hingegen lehnte diese Bemutterung ab, weil er sich für zu alt und männlich hielt, als dass man ihn – auch wenn er erst fünfzehn war – hätscheln müsse.
Dennoch war sie stolz auf ihn.
Wenn sie nicht gerade die Wand gegenüber anstarrte, beobachtete sie, wie der Junge im Raum hin und her ging, wobei ihr eine bestechende Ähnlichkeit zu seinem Vater auffiel, etwa seine aufrechte Schulterhaltung, die Zuversicht und Kraft ausdrückte, die Gangart eines Leitwolfs.
Schliefen die Mädchen, legte sie sie behutsam hin, um sie nicht zu wecken, und versuchte dann gemeinsam mit Basilio, etwas von ihren Entführern zu sehen, indem sie durch die Schlitze an den Fenstern schauten.
Im Laufe ihrer ersten drei Tage als Gefangene gelangten sie zu dem Schluss, dass es sich um sechs Geiselnehmer handelte, alle mit den gleichen Gesichtern und Stimmen, ausschließlich Arabisch sprechend. Sie trugen ähnliche Kleidung, eine Militärhose und einen Kapuzenpullover – beides schwarz –, um ihre Züge zu verbergen, sowie Schusswaffen, die technisch hochentwickelt aussahen.
Schlechte Aussichten.
Basilio griff nach dem Stoff des Shirts seiner Mutter und zupfte, um ihre Aufmerksamkeit einzufordern. »Wir sind jetzt drei Tage hier«, flüsterte er. »Niemand rettet uns. Überhaupt weiß kein Mensch, dass wir hier sind.«
Der Junge war im Gegensatz zu seinem Vater ein ungeduldiger Mensch.
»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun, Basilio? Es mit Soldaten aufnehmen, die bis an die Zähne bewaffnet sind?«
»Willst du lieber warten und nichts tun, bis sie uns abschlachten?«
»Basilio.« Sie streckte sich nach ihm aus und legte ihm eine warme Hand an eine Wange. »Dein Vater erfährt davon, und dann … dann wird alles gut.«
»Papa ist in Amerika, und wir sind … wo auch immer das hier ist. Wir wissen beide genau, dass Papa nichts unternehmen kann.«
Vittoria sah ein, dass der Junge recht hatte. Ihr Ehemann befand sich auf der anderen Seite des Erdballs, um den Papst von einem Glaubenstreffen zum nächsten zu fliegen – und wie von Basilio auf den Punkt gebracht, wussten weder sie beide noch sein Vater, wo sie waren. Wie also sollte jemand sie ausfindig machen, wenn sie ihren Aufenthaltsort nicht einmal selbst kannten?
»Wir müssen eine Möglichkeit finden, von hier wegzukommen«, fuhr der Knabe fort. »Vielleicht können wir, wenn die Wachen einschlafen …«
Vittoria würde nicht zulassen, dass sich Basilio vor lauter Heldenmut in Gefahr brachte. »Nein!« Es klang strenger als beabsichtigt. »Einer von ihnen bleibt immer wach, wie du weißt. Es gibt kein Entkommen, Basilio. Die Wände halten fest zusammen.«
Er baute sich großspurig mit machohaft geschwellter Brust vor ihr auf. »Dann sterben wir wie Feiglinge«, sagte er und kehrte sich ab, doch Vittoria erkannte, dass ihr Sohn lediglich Frust herausließ und sich eigentlich genauso sehr fürchtete wie sie. Sie war überzeugt davon, dass er auf die Knie fallen und um sein Leben betteln würde, falls einer ihrer Häscher eine Waffe auf ihn richtete.
Sie trat von den Schlitzen zurück und schloss ihre Augen. Das Schlimme bestand nicht darin, wie Feiglinge zu sterben, um es mit den Worten ihres Jungen auszudrücken, sondern in der Tatsache, dass sie aus Gründen getötet würden, die sie nicht verstanden.
Ihre Töchter schliefen auf der Pritsche.
Basilio ging in dieser Zelle auf und ab.
Und die Mutter wollte hinter ihrer Fassade bemühter Unbeugsamkeit weinen.
Kapitel 8
Los Angeles, Kalifornien | 10:45 Uhr
Kimball Hayden hatte wie fast immer schlecht geschlafen, wirkte aber trotzdem nie abgehärmt oder vor Müdigkeit zerrüttet. Die Albträume, die ihn quälten, zehrten zu keiner Zeit an seinem Körper. Die emotionale Belastung war dafür aber umso größer.
Vorm Spiegel fielen ihm Fältchen auf, die allmählich an den Rändern seiner Augen und der Stirn entstanden. Er wurde nicht jünger, und die Natur raubte ihm sein jugendliches Aussehen, was sich ausbreitende Runzeln und Krähenfüße belegten, doch ihm blieben jene Kraft und Schnelligkeit, die ihn auf Topniveau arbeiten ließen. Dies musste ihm die Zeit erst noch abspenstig machen.
Als Grünschnabel, der sich in der Rangfolge zu einem staatlich unterstützten Killer gemausert hatte, war ihm auch der Ruf vorausgeeilt, einer der Besten zu sein, die die Welt zu bieten hat, was den Umgang mit zweischneidigen Waffen anging, weil er ein Meister des lautlosen Tötens geworden war. Nachdem er Gegnern mit fraglosem Geschick die Kehlen aufgeschlitzt hatte, war er auch im Machtzentrum des Weißen Hauses zu einem tödlichen Ausnahmetalent avanciert. Jemanden wie ihn hatte bis dato noch niemand kennengelernt.
Viele Jahre später auf seiner Suche nach Erlösung, konnte Kimball Hayden kaum behaupten, inneren Frieden gefunden zu haben. Sein Weg zum Seelenheil war nach wie vor lang.
Er achtete stets auf seine Kleider, auch jetzt beim Anziehen in seiner Suite, und bildete sich etwas darauf ein. Ein Ritter des Vatikan trug immer die vorgeschriebene Uniform: ein Priesterhemd und einen Kollar. An seiner Brusttasche prangte das Emblem der Ritter, ein Wappen zur Abgrenzung seiner Einheit vom Rest des Klerus. Zentriert in der Mitte befand sich ein silbernes Tatzenkreuz auf blauem Grund. Die Farben waren insofern von Bedeutung, als Silber für Frieden und Aufrichtigkeit stand, Blau hingegen für Wahrhaftigkeit und Loyalität. Links und rechts sah man je einen Löwen als Wappentier, die eine Kante des Schilds mit ihren Vorderpfoten festhielten. Sie wiederum versinnbildlichten Tapferkeit, Stärke, Wildheit und Wagemut. Kimballs schwarze Hose mutete indes eher militärisch an, zumal sich die Beinsäume an den Schäften seiner Stiefel bauschten, die