Hans Hyan-Krimis: Der Rächer, Das Rätsel von Ravensbrok & Mord im Bankhaus Lindström. Hans Hyan
schlüpfte ein Mädchen in die Tür. Dasselbe Mädchen, das Heinz Marquardt vorhin den Weg zum Arzt gewiesen hatte. Ein noch junges Geschöpf von kleiner, sehr voller Figur und mit einer schwarzen Mähne, die ihr wie ein Helm in die Stirne hineinwuchs. Darunter leuchteten ein paar blanke Augen, aber den Mund des trotz Puder und Schminke noch frischen Gesichtes entstellte eine schreckliche Narbe.
Heinz Marquardt erkannte sie kaum wieder.
Einen Augenblick blieb sie an der Tür stehen, dann aber wohl einsehend, daß sie sich beeilen müsse, wenn sie allein mit ihm reden wollte, ging sie schnell zu ihm hin, berührte die Schulter des armen Mannes, der noch immer mit vorgebeugtem Oberkörper, die Hand seiner toten Frau in der seinen haltend, auf das blutbefleckte Bett starrte, und sagte leise:
»Ich kann Ihnen vielleicht was sagen. Ich wohne drüben auf der anderen Seite bei Pfeffer.«
Er sah sie an und schüttelte den Kopf, als glaube er nicht, daß es noch irgend jemand auf der Welt geben könne, der ihm etwas zu sagen hätte ...
Das Mädchen aber, das draußen Schritte hörte, schlüpfte hinaus.
2
Die kleine Kuckucksuhr, die zu Häupten des Lagers hing, auf welchem die Tote ruhte, schlug mit hastigen Klängen drei.
Heinz Marquardt blickte traumverloren auf ...
Wie die Zeit vorwärts ging, trotzdem die Trude nun nicht mehr lebte und die Schläge der kleinen Uhr, die sie so gern gehabt hatte, nicht mehr hören konnte ... Aber noch war sie ja bei ihm, und er wollte sie nicht von sich lassen! Nein, wenigstens den Anblick ihres süßen Gesichts wollte er behalten ...
Der Polizeileutnant trat wieder herein und sagte:
»Die Beamten ziehen sich jetzt zurück, Herr Marquardt, ich möchte Sie bitten, auch zu gehen, damit ich die Wohnung zuschließen kann, denn Sie können doch hier nicht bleiben.«
In dem Gesicht des jungen Beamten bewegte sich keine Muskel, als Heinz erwiderte:
»Ich bleibe hier. Und wenn Sie mich mit Gewalt entfernen, breche ich die Türen entzwei und komme wieder her.«
Er sprach das nicht etwa leidenschaftlich, sondern mit der Ruhe, dem kalten Gleichmut, der sich ihm mitgeteilt zu haben schien aus der Nähe des großen Unbekannten, der in diesem Zimmer weilte.
Der Polizeileutnant zuckte die Achseln; er wußte nicht, was er tun sollte.
Aber er hatte auch nicht das Herz, seinen Leuten zu sagen, da nehmt ihn und führt ihn hinaus. So entschloß er sich denn nach einigem Zögern zu der Äußerung:
»Wenn Sie es nicht anders wollen, so bleiben Sie! ... Ich werde Sie aber einschließen, und Sie dürfen nichts von der Stelle rücken und verändern, denn uns liegt daran, daß das Bild der Räume ganz so bleibt, wie wir es gefunden haben ... Es werden nämlich«, setzte er erklärend hinzu, »schon morgen in aller Frühe die Gerichtsphotographen kommen, um hier Aufnahmen zu machen.«
Heinz Marquardt schwieg.
Was der Polizeibeamte da sagte, interessierte ihn gar nicht. Auch dessen leisen Gruß erwiderte er nicht und blieb, als er allein war, noch lange Zeit in unveränderter Haltung neben dem Bette sitzen.
Die Lampe auf dem Nachttischchen fing an zu blaken, und ein übler Petroleumduft durchzog den kleinen Raum. Der Büroschreiber zog die Luft ein, stand auf, aber auf halbem Wege bis zum Nachttisch kehrte er wieder um, denn alles, was in seinem Kopf und Herzen noch lebte, riß ihn unwiderstehlich zurück zu seinem toten Weibe. Erst nachdem er eine ganze Zeit gesessen hatte, ging er hin und schraubte die Lampe herunter, um dann instinktiv das Fenster zu öffnen und sich wieder neben der armen Trude niederzulassen.
Und nun, wie er in ihr entfärbtes Gesicht starrte, von dem der Hauch des Todes das süße Rot gestreift hatte, und dessen kindliche Zartheit einer erhabenen Ruhe gewichen war, nun fing in seinem Kopfe, in dem vorher, wie durch eine gewaltige Explosion, alles über den Haufen gestürzt war, nun fing es sich wieder an zu regen, und die Gedanken erhoben sich, schlugen ihre Augen auf und begannen noch irr- und ratlos, aber doch schon forschend und tastend um sich zu blicken.
Trude war tot.
Wieso denn?
Wodurch?
Durch wen?
Durch wen? Durch wen? Durch wen? Durch wen? Durch wen?
Heinz Marquardt fuhr – als schnellten plötzlich in seinen Beinen Stahlfedern empor – so fuhr er mit einem Ruck in die Höhe.
Nun stand er da, ganz gerade, aber den Körper in einem leichten Winkel gegen den Erdboden vorgeneigt. Seine Arme streckten sich mit ihren Fäusten stracks herunter nach dem Erdboden, und unter seinem wirren, schwarzen Haar stierten die Augen mit plötzlich erwachendem Feuer drohend in den Schatten des Bettes hinein.
Die Trude war plötzlich wie weg, er sah nichts mehr.
Er suchte.
Wer? Wer? Wer? Wer? Wer hatte sie ermordet?
Und auf einmal fing dieser Mensch an, sich wieder zu bewegen.
Erst langsam mit schweren, plumpen Schritten, wie eine Maschine, die im Antrieb ist. Dann arbeiteten seine Glieder schneller, er ging nicht mehr, er rannte, er raste durch das Zimmer ...
Und plötzlich blieb er wieder stehen, mit seinen brennenden Augen auf die Tote hinabschauend.
Wer hat dich ermordet?
Das sagte er nicht, aber seine Augen schrien es in lauter heulenden Schmerzensschreien hinab auf den Leichnam.
Und wie er abermals auf den Stuhl sank, wie wieder Tränen über seine Wangen liefen, da endlich war der Bann in seinem durch dieses furchtbare Ereignis fast zerschmetterten Hirn gebrochen, der Gedankenapparat arbeitete wieder ruhiger, und wenn auch der Gang seiner Ideen noch oft von wilden Schmerzen unterbrochen wurde, so begann doch schon wieder die Logik sich seiner zu bemächtigen, und der bei ihm so hervorragend ausgebildete Spürsinn fing an, Fährten zu suchen und zu verfolgen.
Von den tausend Gedanken, die seinen Kopf durchkreuzten, hieß der erste: Du mußt dich der Polizei zur Verfügung stellen und mit tätig sein bei der Auffindung des Mörders ... Ob man ihn als Helfer willkommen heißen würde? Oh, keine Frage! Obgleich ... So ein ganz leises Mißtrauen störte ihn da in seiner Zuversicht. Er hatte die Fragen des Herrn Geheimrats von vorhin noch nicht vergessen.
Aber würde er ihnen denn helfen können? Diesen Leuten, die so bewandert waren in der Auffindung von Verbrechern? ... Das heißt auch von Mördern? ... Es war doch schon eine ganze Anzahl solcher Schurken unentdeckt geblieben ... Und der, der ...
Die Raserei des Schmerzes bemächtigte sich seiner wieder; er warf sich vor dem Bett nieder, daß ihm die Knie schmerzten, und vergrub seinen Kopf in die Kissen. Doch der Anfall hielt nicht mehr so lange an wie vorher. In seinem Herzen war etwas erwacht, eine Empfindung, die alle anderen zu Boden schlug und jedes Hindernis aus dem Wege riß: der Durst nach Rache.
Wer war es? Wer war es gewesen?!
Und diese Frage, die wild, wie ein Irrsinniger in das Wesenlose hinausstarrte, glättete sich allmählich und wurde vernünftig und zerlegte sich in tausend Kombinationen und Möglichkeiten.
Wer kam denn in Betracht? Wer konnte es denn gewesen sein?
Stehend beugte er sich nieder, nahm die eiskalte Hand der Toten in die seine und preßte sie lange Zeit an seine fiebernden Lippen.
»Ich finde ihn!« murmelte er. »Ich finde ihn, verlaß dich darauf, mein Liebling! ... Und hier, hier! ...«
Er hatte die Totenhand fallen lassen, und seine eigenen, zu Krallen gekrümmten Fäuste vor die Entschlafene hinstreckend, schrie er laut:
»Damit werde ich ihn zerreißen! Zerreißen