Der falsche Friese. Martina Aden
leide an einer Rot-Grün-Sehschwäche, und wenn die Perücken nebeneinanderliegen, kann ich sie nicht unterscheiden. Grün trage ich sonst nur freitags, wenn ich als Beppo auftrete.«
Ich hatte Mühe, seinen Ausführungen zu folgen, was aber auch an meinem knurrenden Magen liegen konnte, der mir das Denken erschwerte. Ich beugte mich zu Diana. »Wenn das mit Paulis Pommesmobil nur ein Trick war, um mir Bruno unterzujubeln, werde ich ernsthaft sauer. Darüber macht man keine Scherze.«
»Bleib locker«, sagte Diana. »Du bist ganz schön unleidlich, wenn du hungrig bist. Pauli ist da, ich kann seinen Wagen von hier aus sehen.«
Der Wochenmarkt auf dem Marktplatz lag in den letzten Zügen, die Verkäufer räumten bereits ihre nicht verkauften Waren ein. Wir bahnten uns einen Weg zwischen den gestapelten Kisten hindurch und folgten dem verheißungsvollen Duft des Frittierfetts. Diana lief dicht neben mir; Bruno hatte in seinen riesigen Schuhen Mühe, mit uns Schritt zu halten, und watschelte in einigem Abstand hinterher.
»Kannst du mir mal sagen, was das mit dem Clown soll?«, fragte ich halblaut. »Ich dachte, du trauerst Wilbert noch hinterher und vergnügst dich nur zum Spaß mit einem anderen.«
Diana winkte ab. »Mit Wilbert habe ich abgeschlossen. Bruno ist das perfekte Trostpflaster. Sieh ihn dir doch nur an: Wie soll man bei diesem Anblick schlechte Laune haben?«
Ich sah verstohlen über meine Schulter und kam zu einem gänzlich anderen Urteil: Das mit der schlechten Laune fiel mir leicht.
Diana verliebt sich schnell, heftig und meistens in Freaks. So rasant, wie die Verliebtheit beginnt, endet sie erfahrungsgemäß auch wieder. In der Regel sind ihre Auserwählten harmlose Spinner, aber bei Bruno war ich mir nicht so sicher. Da war mir Wilbert, der Tänzer ohne Talent, deutlich lieber. Der war wenigstens Angestellter in einem Druckshop und kein unheimlicher Clown.
Der Sous-Turm, eine fünfundzwanzig Meter hohe Skulptur aus Stahlrohr und Plexiglas, die irgendwas zwischen Glockenspiel und Kunst darstellen soll, streckte sich dem wolkenlosen Himmel entgegen. Paulis Pommesmobil stand ein Stück weiter hinter der gläsernen Markthalle an der Kreuzung zur Lilienstraße. Auf der Seitenfläche des gelben Kastenwagens prangte eine überdimensional große Pommestüte mit lachendem Gesicht, ganz automatisch lächelte ich zurück.
Vor dem Verkaufstresen hatte sich eine lange Warteschlange gebildet, der wir uns anschlossen. Paulis Pommes waren legendär, und durch den Umstand, dass er Aurich nur alle paar Wochen anfuhr, wurden sie noch begehrenswerter. Es gab sogar Menschen, die ihm wie Groupies von Standort zu Standort folgten. Das konnte ich mit Gewissheit sagen, weil ich mitunter dazugehörte.
Ich tappte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Für einen Frühlingstag im Mai war es ungewöhnlich heiß, und die Tatsache, dass wir, bedingt durch Brunos Auftritt, schon eine ganze Weile im prallen Sonnenschein standen, machte die Warterei nicht unbedingt angenehmer. Mein Scheitel glühte bereits.
Ein grauhaariger, sorgfältig rasierter Mann mit gepflegtem Kurzhaarschnitt nahm sein Essen entgegen und balancierte es zu einem der weißen Stehtische neben dem Verkaufswagen. Er zog eine Pommes aus der Tüte und tunkte sie in Mayonnaise. Ich sah ihm neidisch dabei zu.
Unsere Blicke trafen sich, und ich erkannte den Mann, doch mit ihm ging eine Veränderung vor, die nichts Gutes verhieß. Sein fahler Büroteint verwandelte sich in ein dunkles Rot und nahm dann eine bläuliche Färbung an, die Pommestüte rutschte ihm aus der Hand und fiel auf den Boden, wo er eine Sekunde später ebenfalls aufschlug.
»Verdammt, das hat mir gerade noch gefehlt!« Ich spurtete zu ihm rüber.
Diana bedeutete Bruno, unseren Platz in der Schlange zu verteidigen, und folgte mir. »Kennst du den Kerl?«
»Das ist Hans Lemke, der Standesbeamte, der meine Eltern trauen soll. Wenn er vor der Hochzeit das Zeitliche segnet, dreht meine Mutter durch!«
Meine Mutter hatte sich nach weit über dreißig Jahren wilder Ehe dazu durchgerungen, meinem Vater das Ja-Wort zu geben. Unter der Bedingung, dass ihr langjähriger Freund, der Standesbeamte Hans Lemke, die Trauung vornahm. Und das konnte er nun mal nur, solange er noch unter den Lebenden weilte.
Ich kniete mich neben den Ohnmächtigen, drehte ihn auf den Rücken und tastete an seinem Handgelenk nach dem Puls.
Nichts.
Schwer zu sagen, ob er wirklich keinen hatte oder ob ich ihn wegen meiner fehlenden Kenntnisse in Erster Hilfe schlicht nicht fühlen konnte. Den ersten und einzigen Ersthelferkurs meines Lebens hatte ich während des Führerscheins vor dreizehn Jahren gemacht, und schon damals wäre mir jeder Leichtverletzte unter den Händen weggestorben.
»Ich glaube, er hat einen Herzstillstand«, sagte ich zu Diana. »Kennst du dich mit Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung aus?«
Diana wedelte abwehrend mit den Händen. »Sieh dir seine Mundwinkel an, da klebt mindestens ein Pfund Mayonnaise dran. Bei dem beatme ich gar nichts!«
»Dann ruf wenigstens einen Krankenwagen!«
Ich knöpfte Lemkes Hemd auf. Von seiner behaarten Brust drang mir ein penetranter Parfümduft entgegen und mischte sich mit dem Geruch der Pommes, die wie ein Heiligenschein um seinen Kopf verteilt lagen. Ich legte die Hände übereinander, platzierte sie an der Stelle, an der ich das Brustbein vermutete, und drückte zaghaft zu. Und noch einmal.
»Jetzt hilf mir doch mal!«, blaffte ich Diana an.
»Nur nicht nervös werden«, sagte sie. »Man soll die Herzdruckmassage zum Rhythmus von ›Stayin’ Alive‹ machen. Soll ich dir den Takt vorgeben?«
»Du sollst endlich den verdammten Krankenwagen rufen!«
»Ist schon passiert«, meldete jemand aus der Warteschlange. Die Stimme kam mir bekannt vor, und noch während ich auszumachen versuchte, wer gesprochen hatte, löste sich Helena Schön aus der Gruppe und trat auf uns zu. »›E-Book-Elli als Lebensretterin‹, Untertitel: ›Da denkt selbst sie nicht mehr an die schönste Nebensache der Welt!‹«
Ich verdrehte die Augen und versuchte weiter, Hans Lemke unter den Lebenden zu halten. Zwei Männer kamen von irgendwoher hinzu und halfen mir.
Die schöne Helena kommentiert jedes unserer Zusammentreffen mit einer imaginären und tatsachenverdrehenden Schlagzeile. Einige davon finden sich später tatsächlich in der Zeitung wieder. Sie arbeitet als Journalistin beim »Ostfriesland-Reporter«, unserem lokalen Revolverblatt, und schreibt gern verleumderische Artikel über mich und mein angeblich ausschweifendes Liebesleben. Außerdem ist sie die Freundin meines Verflossenen, Jörg. Und die einzige Person, die es schafft, Mordgelüste in mir zu wecken.
Helena strich sich eine frisch blondierte Locke hinter das Ohr, zückte ihren Fotoapparat und machte eine Aufnahme von meinem Schützling und mir.
Bevor ich besagten Mordgelüsten nachgeben konnte, ertönte eine Sirene, ein Krankenwagen brauste heran, und zwei Rettungssanitäter kümmerten sich um Hans Lemke. Sie bezeichneten seinen Zustand trotz meines Einsatzes als stabil, hievten ihn auf eine Trage und luden ihn in den Rettungswagen. Nach ein paar Minuten war der Spuk vorbei, als sei nichts gewesen, und ich fragte mich, ob ich alles nur geträumt hatte. Bis Helena mich in die Wirklichkeit zurückholte.
»Schade, dass er nicht abgekratzt ist.« Sie seufzte. »Dann hätte es mein Artikel bestimmt auf die Titelseite geschafft.«
»Du hast aber auch ein Pech«, entgegnete ich. »Vielleicht hättest du den Krankenwagen lieber nicht rufen sollen.«
»Das war ich nicht. Pauli hatte das Handy schon in der Hand, kaum dass der Typ den Boden berührte.«
»Hätte mich auch gewundert. Du wärst nicht du, wenn du dich um deine Mitmenschen sorgen würdest.«
Ich ließ Helena stehen und gesellte mich mit Diana zu Bruno, der sich in der Warteschlange auf den zweiten Platz vorgekämpft hatte. »Du kannst meine Pommes streichen«, sagte ich. »Hans Lemkes parfümierte Brusthaare haben mir den Appetit verdorben, und jetzt hängt der Geruch an meinen Händen. Ich muss sie erst irgendwo waschen.« Und, wenn möglich,