Der falsche Friese. Martina Aden
hatte sie sich mit der Malerei beschäftigt, in ihren Zwanzigern war ihr der große Durchbruch gelungen. Sie führte ein ausschweifendes Leben, sowohl in Aurich wie auch in ihrer zweiten Heimat Hamburg, und unterhielt Kontakte zu vielen Prominenten, von denen nicht wenige aus dem Rotlichtviertel rund um die Reeperbahn stammten. Die Nachkommen einiger dieser Nachtclubbonzen waren noch heute im Besitz ihrer Bilder.
Sie gab nicht viel über ihr Privatleben preis. Zwar boten mir ihre Kontakte zum Rotlichtmilieu einiges, um einen Artikel ganz in Martin Jägers Sinn zu schreiben, aber die wirklich interessante Story lag im Verschwinden ihres Sohnes Andreas.
Ich beschloss, mich langsam heranzutasten. »Haben Sie jemals geheiratet?«
»Ich war mit meiner Kunst verheiratet.«
»Es gab keinen Lebensgefährten?«
Violetta Kalski verdrehte die Augen und stieß ein theatralisches Seufzen aus. »Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Also gut, Sie können mir eine Frage über Andreas stellen. Eine einzige.«
»Es heißt, dass Sie nicht glauben, Ihr Sohn habe sich ins Ausland abgesetzt. Was ist Ihrer Meinung nach mit ihm passiert?«
»Er ist tot.«
»Warum glauben Sie das?«
»Sie haben Ihre Frage gestellt.«
»Das stimmt. Wenn Sie mir jedoch erlauben würden, diesen Aspekt in meinem Artikel aufzugreifen, könnten Sie dadurch Ihre Version der Geschichte verbreiten.« Mir wurde bewusst, dass ich mich fast wie Martin Jäger anhörte, und ich schwieg betroffen.
»Bitte gehen Sie jetzt.« Violetta Kalskis Gesicht war verschlossen, mit einer unwirschen Handbewegung deutete sie zur Tür.
»Aber wir haben noch gar nicht über die weiteren Punkte des Artikels gesprochen.«
»Ich habe es mir anders überlegt, es wird keinen Artikel geben.« Sie sagte das so bestimmt, dass ich mich nicht traute, etwas zu erwidern.
Mit Alexa im Schlepptau schlich ich zur Tür und trat auf den Flur. Die Wohnungstür knallte hinter uns ins Schloss, was angesichts der Tatsache, dass sie überaus schwer und die Künstlerin unglaublich zerbrechlich wirkte, eine reife Leistung war.
»Tut mir leid«, sagte ich zu Alexa.
Meine Cousine starrte geistesabwesend zur Tür. »Sie kennt mich. Sie kennt meinen Namen und meine Kunst. Ist das nicht großartig?«
»Dir ist aber schon aufgefallen, dass sie uns gerade rausgeschmissen hat, oder?«
»Du bist aber auch wirklich keine angenehme Interviewpartnerin. Meinst du echt, dass das der richtige Job für dich ist?«
»Das wirst du mir bald sagen können, du bist nämlich soeben zur Hauptperson meines Artikels befördert worden. Der erste Gedanke ist eben doch der beste.«
4
Das Haus meiner Eltern liegt in Ostgroßefehn, und zwar direkt am Fehnkanal, unweit einer der typischen weißen Klappbrücken. Ich parkte meinen altersschwachen Golf auf der Auffahrt und stiefelte zur Haustür, wobei ich mir das Hirn zermarterte, wie ich meiner Mutter die Nachricht von Hans Lemkes Zusammenbruch möglichst schonend beibringen konnte. Die beiden kannten sich seit ihrer Jugend und hatten es geschafft, ihre Freundschaft auch nach der Schulzeit während ihres Erwachsenenlebens aufrechtzuerhalten, daher war es für meine Mutter selbstverständlich, dass nur er die Trauung vornehmen durfte.
Die Tür schwang auf, bevor ich den Klingelknopf drücken konnte.
»Komm rein, Eleonore. Schön, dass du da bist.«
Ich folgte meiner Mutter in die Küche. Sie ließ sich ermattet auf einen Stuhl plumpsen, und ich setzte mich ihr gegenüber an den Esstisch. Ich wollte gerade mit der Neuigkeit rausplatzen, als sie mich unterbrach.
»Ich habe schon gehört, was passiert ist. Hans und ich waren heute Mittag verabredet. Ich habe eine ganze Zeit im Café gesessen und auf ihn gewartet, ehe er mich schließlich anrief und mir von seinem Herzanfall erzählte.«
»Dann geht es ihm wieder besser?«
»Den Umständen entsprechend. Er hat seit Langem Herzprobleme, das war nicht sein erster Kollaps. In ein paar Tagen ist er wieder auf den Beinen.«
»Also findet eure Hochzeit wie geplant statt?«
Sie seufzte. »Das tut sie.«
Ich musterte meine Mutter, die so gar nicht der Vorstellung entsprach, die ich von einer vorfreudigen Braut hatte. Ihre Bewegungen wirkten fahrig, und auf ihren Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. Ihr brauner Fransenschnitt schien jegliche Spannkraft verloren zu haben, schlaff und kraftlos hingen ihr die Strähnen in die Stirn.
»Freust du dich gar nicht darauf?«, fragte ich vorsichtig.
»Doch, schon. Irgendwie.« Sie mied meinen Blick. »Aber meine Vorfreude wird gerade ganz schön auf die Probe gestellt.«
»Inwiefern?«
»Ach, in letzter Zeit habe ich dauernd Pech. Ständig fällt mir was runter, oder ich stoße mich. Größere Dinge gehen oft von ganz allein kaputt.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern.
Ich erinnerte mich, dass sie mir vor einigen Wochen schon mal von ihrer derzeitigen Pechsträhne erzählt hatte. Missgeschicke, die meist glimpflich endeten. »Du bist sicher nur nervös.«
»Möglich. Aber es sind auch Dinge, die ich nicht beeinflussen kann. Als ich zum Beispiel gestern Morgen zur Arbeit fahren wollte, ist mir vor der Haustür fast ein loser Dachziegel auf den Kopf gefallen, ich konnte gerade noch zur Seite springen. Auf der Rückfahrt abends habe ich mich gewundert, dass das Auto so komisch fährt. Zu Hause habe ich dann mehrere Schrauben in den Hinterreifen entdeckt, und zwar an beiden Seiten. Ist das nicht seltsam? Und das war ja nicht das erste Mal. Schon im Dezember mussten wir einen Reifen wechseln lassen, weil eine Schraube drinsteckte. Das sind keine guten Vorzeichen für die Hochzeit.«
»Diese Vorfälle haben wohl kaum etwas mit der Hochzeit zu tun. Du hattest außerdem jedes Mal Glück im Unglück, das ist doch ein gutes Zeichen.« Als derzeit einziges von drei Kindern meiner Eltern vor Ort – meine Schwester Victoria lebt in Frankfurt und mein Bruder Michael hat sich mit seiner Modelfrau und den beiden gemeinsamen Töchtern in der Schweiz niedergelassen – bestand meine Aufgabe als jüngste Tochter darin, meine Eltern in sämtlichen Hochzeitsangelegenheiten zu unterstützen, bis meine Geschwister ankamen. Diesen Job nahm ich ernst, auch wenn ich mit dem ganzen Hochzeitstrubel nicht viel am Hut hatte.
»Dann würde mich nur mal interessieren, warum diese Dinge erst seit der Verlobung passieren. Aber lassen wir das. Was für ein Kleid hast du dir eigentlich für die Hochzeit besorgt, Eleonore?«
»Zur standesamtlichen Trauung ziehe ich mein kleines Schwarzes an.« Ich hatte es mir schon vor Jahren gekauft, zu deutlich schlankeren Zeiten. Damals musste ich es noch enger nähen lassen, diese Nähte hatte ich inzwischen wieder aufgetrennt. Wenn ich meine Atmung während der Trauung auf das Nötigste beschränkte, müsste es passen. Ich hatte versucht, die acht Kilo, die ich seit meiner Rauchentwöhnung zugenommen hatte, wieder loszuwerden, und jetzt, einige Monate später, fehlten mir noch elf Kilo bis zu diesem Ziel.
»Und wie sieht dein Kleid für die große Saalfeier aus?«
Tja, gute Frage, denn ehrlich gesagt besaß ich ein solches Kleid bislang nur in meiner Phantasie. »Es ist grau … oder eher blau. Graublau.«
»Sehr schön. Was für Ärmel?« Sie blickte mich mit leuchtenden Augen an, und mein schlechtes Gewissen meldete sich.
»Mittel.«
»Und die Länge?«
»Auch.«
Ein leises Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Ich freue mich schon auf meine herausgeputzten Kinder, schließlich ist das auch euer großer Auftritt.«
Auf den ich mich ungefähr so sehr freute wie auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. In