Der falsche Friese. Martina Aden
erledigt. Der Artikel liegt spätestens Donnerstag auf Ihrem Schreibtisch.«
Und ich wusste schon, wer mein erstes Opfer sein würde.
3
Wer glaubt, dass Künstler erst nach ihrem Tod reich und berühmt werden, kennt meine Cousine Alexa nicht. Mit Mitte dreißig kann sie bereits von ihrer Kunst leben und hat nebenbei am Aufbau des Kontaktzentrums mitgewirkt, das vor einem knappen Jahr in Aurich eröffnet wurde. Hier betreut sie vorwiegend die Gruppe der ehemaligen Strafgefangenen.
Das Kontaktzentrum befindet sich in einem Stadthaus aus rotem Backstein in der Wallstraße, einer Nebenstraße der Fußgängerzone. Alexa, die eigentlich in Greetsiel wohnt, verbringt hier so viel Zeit, dass sie sich im Erdgeschoss ein Atelier eingerichtet hat, um ihren Eingebungen jederzeit nachgehen zu können, wenn die Muse sie küsst.
Ich durchschritt den Eingangsbereich, klopfte an die Tür zu Alexas Arbeitszimmer und öffnete sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Es roch nach Ölfarben, Alexa stand mit dem Rücken zu mir vor der Staffelei und arbeitete an einem Gemälde. Sie erwiderte meine Begrüßung, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu lösen. Ihre schwarzen Haare waren am Hinterkopf zu einem Knoten gedreht, den sie mit einem eingesteckten Pinsel fixiert hatte.
Mein Blick glitt über ihre Schulter zur Leinwand. Das Bild zeigte einen bulligen nackten Glatzkopf, dessen Geschlechtsteil von einem Feigenblatt bedeckt wurde. Ich sah an der Leinwand vorbei und entdeckte Henry, einen der ehemaligen Strafgefangenen, den Alexa unter ihre Fittiche genommen hatte. Er stand für dieses Bild Modell.
Nackt. Ohne Feigenblatt.
»Himmel!«, entfuhr es mir.
»Tu nicht so, als hättest du noch nie einen nackten Mann gesehen.« Alexa tupfte etwas Farbe auf ihren Pinsel und fügte eine Schattierung auf dem Gemälde hinzu.
»Moin!«, grüßte Henry freudestrahlend. Dass ich seinen Schwengel direkt im Visier hatte, schien ihn nicht zu stören.
»Warum trägt Henry kein Feigenblatt wie auf dem Gemälde?«
»Er hat immer so einen entspannten Gesichtsausdruck, wenn er sich völlig frei macht. So ist es für uns beide einfacher, schließlich beschäftige ich mich erst seit Kurzem mit der Aktmalerei.«
Von Entspannung war ich meilenweit entfernt. Natürlich habe ich gegen den Anblick eines nackten Mannes grundsätzlich nichts einzuwenden, aber einen zweiten Blick auf Henry musste ich nicht unbedingt riskieren. Ich bewunderte also die Bücher in Alexas Regal und tat so, als verstünde ich irgendetwas von dem, was die Buchrücken anpriesen. Wer wusste schon, wodurch Impressionismus und Expressionismus sich unterschieden? Ein paar unterschiedliche Buchstaben, sonst nichts.
Henry war Alexas Muse. Nicht mehr und nicht weniger, das hatte sie geschworen. Allerdings hatte sie auch geschworen, niemals Alkohol zu trinken, und vor nicht allzu langer Zeit hatte ich sie mit einem heftigen Kater erlebt.
»Ich kann gern später wiederkommen«, sagte ich.
»Nicht nötig, wir sind für heute fertig.« Alexa stellte ihre benutzten Gerätschaften in ein Glas mit klarer Flüssigkeit, die sich daraufhin grau verfärbte, zog den Pinsel aus ihrem Haarknoten und schüttelte ihr Haar.
Henry verschwand mit seinem Pinsel hinter einem weißen Paravent. Eigentlich unnötig, es gab ohnehin nichts mehr zu verbergen, er hätte sich auch gleich vor unseren Augen anziehen können.
Nachdem er in seine Klamotten gehüpft war, verabschiedete er sich mit einem Wangenküsschen von Alexa und ging seiner Wege.
»Warum auf einmal Aktmalerei?«, fragte ich.
Alexa wischte sich die Hände an einem farbbeklecksten Tuch ab. »Hör bloß auf, eigentlich ist das gar nicht mein Ding, aber es ist die einzige Möglichkeit für mich, Henry nackt zu sehen, ohne ihm dabei zu nahe zu kommen.«
»Ist das nicht ein bisschen albern? Ich bin mir ziemlich sicher, dass er auch auf dich steht.«
Alexa seufzte. »Das ist ja das Problem. Eine Muse bringt nur dann etwas, wenn sie unerreichbar ist und es auch bleibt. Sobald man seinen Gelüsten nachgibt, war’s das mit der Inspiration.«
Zum Glück hatte ich diese Probleme als Schriftstellerin nicht. Zwar stellte ich es mir gelegentlich ganz hilfreich vor, eine solche Inspirationsquelle zu haben, aber es hörte sich zugleich nach einer Menge Drama an, und dafür bin ich nicht der Typ. Überdies war ich seit einem halben Jahr in festen Händen.
Phil Winter, dem diese Hände gehörten, rangierte auf der Liste der wichtigsten Männer in meinem Leben auf einem soliden zweiten Platz gleich hinter meinem Kater O’Malley. Phil lebte in München, aber wir besuchten uns, so oft es ging und wann immer sein Job als Polizist es zuließ. Wie genau es mit uns weitergehen würde, wussten wir noch nicht. Ich war mir sicher, nicht für das Leben in den Bergen geschaffen zu sein, und Phil befürchtete, auf dem platten Land langfristig einen Koller zu kriegen.
»Aber du bist sicher nicht hier, um mit mir über mein nicht vorhandenes Liebesleben zu sprechen«, sagte Alexa. »Also, was führt dich zu mir, Cousinchen?«
Ich berichtete ihr zunächst von Hans Lemkes Zusammenbruch und schlug dann einen Bogen zu meinem Anliegen. »So bin ich beim Ostfriesland-Reporter gelandet und schreibe jetzt eine Artikelserie über Ostfrieslands Persönlichkeiten.«
»Wen hast du für deinen ersten Artikel im Sinn?«
»Dich natürlich. Du bist doch Ostfrieslands berühmteste Künstlerin.« Und die einzige, die ich kannte, aber das behielt ich für mich.
»Schätzchen, wenn du über eine wirklich bedeutende hiesige Künstlerin schreiben willst, solltest du mit Violetta Kalski anfangen.«
»Nie gehört.«
»Sie ist so ziemlich das Beste, was unsere Kunstszene jemals hervorgebracht hat.« Alexa deutete auf ein gerahmtes Bild an der Wand zu ihrer Linken. »Das Gemälde von Violetta Kalskis Arbeitszimmer hat mich ein Vermögen gekostet. Das hier ist allerdings nur ein Kunstdruck, das Original hängt in meinem Atelier in Greetsiel.«
Das Gemälde sah nett aus, aber warum Alexa so einen Wirbel darum machte, erschloss sich mir nicht. Wahrscheinlich fehlte mir einfach der entsprechende Kunstsinn. Ich sah nur ein Zimmer mit Holzdielen, links, rechts und geradeaus jeweils eine Tür, in dem sich bis auf einen Tisch mit zwei Holzstühlen nur eine Staffelei befand. Das Gemälde musste von der Fensterseite aus gemalt worden sein, denn aus dem Blickwinkel des Betrachters fiel Tageslicht in den Raum. Auf der Staffelei war ebendieser Anblick, der sich mir gerade bot, auf die Leinwand gebannt worden. Sozusagen ein Bild im Bild. Ich trat einen Schritt näher heran, um die Signatur zu entziffern, und stellte fest, dass das Gemälde vor dreiundvierzig Jahren entstanden war.
»Wie alt ist Violetta Kalski jetzt?«, fragte ich.
Alexa überlegte kurz. »In ihren Achtzigern.«
»Ich glaube nicht, dass sie zu den Persönlichkeiten gehört, die mein neuer Chef im Sinn hatte. Du kennst ja den Ostfriesland-Reporter, je reißerischer, desto besser. Darum wollte ich über deine Arbeit mit den Knastbrüdern schreiben.«
»Reißerisch ist das geringste Problem«, sagte Alexa. »Wenn ein Leben tragisch verlaufen ist, dann das von Violetta Kalski. Ihr Sohn wird seit vierzig Jahren vermisst. Ohne die geringste Spur.«
Ich horchte auf. »Das hört sich allerdings nach einer interessanten Geschichte an. Gibt es eine Vermutung, was mit ihm passiert sein könnte?«
»Er war ein Lebemann und Frauenheld, alle Welt geht davon aus, dass er sich ins Ausland abgesetzt hat. Davon hatte er wohl schon länger gesprochen. Nur seine Mutter will bis heute nichts davon hören.«
»Sie wohnt nicht zufällig hier in Aurich, oder? Dann könnte ich ihr gleich mal einen spontanen Besuch abstatten.« Ich kannte mich und meine Arbeitsweise. Ich bin eine Meisterin darin, Dinge aufzuschieben. Steuererklärung? Da räume ich doch lieber die Wohnung auf. Wohnung aufräumen? Erst mal die alten Zeitschriften durchsehen, ob ich