Der falsche Friese. Martina Aden

Der falsche Friese - Martina Aden


Скачать книгу
dachte kurz nach. »Sie hat tatsächlich eine Villa hier in Aurich, in der Graf-Enno-Straße. Aber soweit ich weiß, lebt sie seit zwei oder drei Jahren in der großen Seniorenresidenz in Norddeich. Du weißt schon, dort, wo die ganzen Promis ihren Lebensabend verbringen. Die Nordsee liegt sozusagen in ihrem Garten.« Sie bekam einen schwärmerischen Gesichtsausdruck, der jedoch nicht der Nordsee galt. »Ich wollte sie immer schon mal kennenlernen, aber sie hat sich schon vor Jahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Es gab einfach nie den passenden Anlass, um ihr einen Besuch abzustatten.«

      »Heißt das, du willst mich begleiten?«

      »Natürlich. Diese Gelegenheit lasse ich mir doch nicht entgehen.«

      In Gedanken überschlug ich meine Planungen für den heutigen Tag. Nach Norddeich brauchten wir pro Strecke ungefähr eine halbe Stunde. Ich konnte es also noch locker abends zu meinen Eltern schaffen, um mit ihnen über Hans Lemkes Zusammenbruch zu sprechen.

      Alexa hatte unterdessen ihre Handtasche gepackt und war zum Aufbruch bereit. »Ich bin fertig, meinetwegen können wir gleich losfahren. Oder willst du dich noch weiter an Henrys Anblick auf der Leinwand ergötzen?«

      Die »Residenz am Meer« war nur durch den Deich von der Nordsee getrennt, ein weißes, L-förmiges Gebäude mit rotem Ziegeldach und unzähligen Fenstern erstreckte sich vor uns. Alexa und ich passierten auf unserem Weg zum Eingang einen imposanten Springbrunnen vor dem Gebäude und fanden uns kurz darauf in einer Eingangshalle wieder, die nicht im Mindesten an ein Altersheim erinnerte, eher an eine Hotellobby.

      Eine schlanke Blondine mit hohem Pferdeschwanz und Blazer über der weißen Bluse stand hinter einem Tresen und lächelte uns verbindlich entgegen. »Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?«

      »Wir möchten zu Violetta Kalski«, sagte Alexa.

      »Sind Sie angemeldet?«

      Ich warf Alexa einen Blick zu. Daran hätten wir denken sollen. Natürlich lebten in der »Residenz am Meer« keine Normalsterblichen, da ließ man nicht jeden x-beliebigen Besucher ohne Anmeldung herein.

      Alexa lächelte einnehmend und stellte uns vor. »Leider sind wir nicht angemeldet, aber ich bin Künstlerin wie Frau Kalski und möchte sie sozusagen berufsbedingt sprechen.« Sie legte eine ihrer Visitenkarten auf den Tresen.

      »Ich frage nach, ob sie Sie empfangen möchte. Einen Moment bitte.« Die Blondine schlug ein Telefonregister unter »K« auf und fuhr mit dem Finger suchend über die Namensliste. Sie wählte eine Nummer und teilte der Angerufenen unser Anliegen mit. »Frau Kalski empfängt Sie. Folgen Sie bitte diesem Flur bis zum Ende und biegen Sie dann links ab.« Sie wies nach rechts in einen breiten Gang. »Es ist die dritte Tür hinter dem Salon, unserem Gesellschaftszimmer. Nummer hundertachtzehn.«

      Wir setzten uns in Bewegung. Ich hatte noch nie in meinem Leben ein Altersheim von innen gesehen, aber ich war mir sicher, dass dieses nicht der Norm entsprach. An den strahlend weißen Wänden hingen Bilder von Künstlern, deren Namen Alexa mir im Vorbeigehen zuraunte, edle Sitzmöbel boten in regelmäßigen Abständen Gelegenheit zum Ausruhen, und die Zimmertüren verfügten über Spione, unter denen sich messingfarbene Türklopfer befanden.

      »Hier könnte ich es aushalten«, sagte ich zu Alexa. »Vielleicht sollte ich die Augen nach einem einsamen Witwer offen halten.«

      »Du hast doch Phil. Und außerdem sind hier keine Haustiere erlaubt, was wird dann aus O’Malley?«

      Und sofort zerplatzte der Traum wieder. Auf meinen Kater würde ich für nichts und niemanden verzichten. Er kennt mich in so vielen beklagenswerten Zuständen wie kein Mensch auf dieser Welt. Allein die Tatsache, dass er sich jeden Morgen freut, mich zu sehen, rechne ich ihm hoch an, denn ich biete nach dem Aufstehen wirklich keinen schönen Anblick.

      Wir schritten am Salon vorbei, vor der Tür zu Zimmer hundertachtzehn blieben wir stehen.

      »Himmel, bin ich aufgeregt!« Alexa atmete tief durch, um sich zu beruhigen, aber sie konnte kaum stillstehen. »Darf ich bitte klopfen?«

      »Tu dir keinen Zwang an.«

      Mit zittrigen Fingern betätigte sie den Klopfer. Als hätte sie etwas gestochen, zuckte sie zurück. »Oh mein Gott, ich habe an Violetta Kalskis Tür geklopft.«

      »Starke Leistung.«

      Hinter der Tür regte sich nichts. Zumindest nichts, was wir hier draußen hätten hören können. Sie wirkte so schwer und massiv, dass sie wahrscheinlich alle Geräusche schluckte, die sich dahinter abspielten.

      Nach einer halben Minute wurde die Tür geöffnet, und wir standen einer hochgewachsenen, schlanken Frau gegenüber, die uns mit missbilligendem Blick musterte. Ihre Haare waren zu einem strengen Dutt zusammengebunden, und ihre aufrechte Körperhaltung erinnerte an eine Ballettlehrerin. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass sie einen schwarzen Rollkragenpulli trug, der eng an ihrem Oberkörper anlag. Ich konnte dem Impuls, einen Knicks zu machen, gerade noch widerstehen.

      »Violetta Kalski«, hauchte Alexa.

      »Alexa«, stellte Violetta Kalski nüchtern fest. »Treten Sie ein.« Sie wies in das Innere ihrer Wohnung, und wir folgten ihrem Wink.

      »Sie kennen mich?« Alexa legte sich die Hand aufs Herz.

      »Ich verfolge Ihre Arbeit seit Jahren. Besonders Ihre jüngsten Werke gefallen mir.«

      Alexa verfügt über eine bemerkenswerte Selbstbeherrschung. Sie wird nicht laut, bekommt keine unschönen Hautrötungen, wenn sie aufgeregt ist, und ich glaube, sie kann sogar ihre Transpiration kontrollieren. Bei diesen Worten lief ihr Gesicht jedoch rosa an.

      Violetta Kalski deutete auf eine Sitzgruppe unterhalb eines Fensters. »Setzen Sie sich bitte. Frau Grevers vom Empfang sagte, Sie möchten mich beruflich sprechen?«

      Das war mein Stichwort. »Genau genommen möchte ich Sie sprechen. Oder besser: interviewen. Ich arbeite als Gastautorin für den Ostfriesland-Reporter und schreibe derzeit eine Artikelserie über Ostfrieslands Persönlichkeiten.«

      »Und Sie sind?« Die Künstlerin zog die Augenbrauen hoch und sah mich abschätzend an. »Ihr Name ist leider nicht hängen geblieben.«

      »Eleonore Vogel«, sagte ich, in der Hoffnung, dass mein vollständiger Name mir mehr Autorität verleihen würde.

      »Vogel? Soso. Und da dachten Sie sich, Sie fahren mal zur Kalski ins Altersheim und sehen ihr beim Sterben zu.«

      »Nein, ich wollte doch nur –«

      »Schon in Ordnung.« Sie winkte ab.

      »Warum leben Sie in dieser Residenz?«, fragte ich. »Sie wirken auf mich nicht so, als bräuchten Sie Hilfe.«

      Violetta Kalski presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Ich leide unter schwerer Arthrose und bin nicht mehr in der Lage, meinen Haushalt selbst zu führen. Ich kann nicht einmal mehr einen Pinsel halten.« Ein bitterer Zug legte sich um ihren Mund, als sie ihre Hände hob, deren Finger krallenartig gekrümmt und verformt waren.

      »Oh. Das tut mir leid. Haben Sie Ihr Haus verkauft?«, fragte Alexa.

      »Nein, aber ich werde nicht dorthin zurückkehren. Die Erinnerung ist zu schmerzlich.«

      »Die Erinnerung an Ihren Sohn?«, fragte ich.

      Alexa machte auf ihrem Sessel wilde Gesten, die mir sagen sollten, dass Violetta Kalski sich mit dem Kommentar wohl eher auf ihre aktive Künstlerzeit bezogen hatte, aber es war zu spät, die Frage war schon rausgeflutscht.

      »Sind Sie hierhergekommen, um mich über meinen Sohn auszufragen? Dann können Sie gleich wieder gehen.«

      »Nein, entschuldigen Sie bitte.« Wie sollte ich da nur wieder rauskommen? Politiker hatten es leichter. Sie distanzierten sich einfach von ihrer Aussage, und die Sache war gegessen. »Fangen wir noch mal von vorne an.« Ich atmete tief durch und sortierte meine Gedanken. »Es geht in meiner Artikelserie um die Erfolgsgeschichten berühmter Ostfriesen und was diese Personen heute


Скачать книгу