Der falsche Friese. Martina Aden
erst Mittag war und ich noch nichts gegessen hatte, setzten wir uns ins nächste Café, und ich bestellte Cappuccino und Muffins. Auch Diana gesellte sich wieder zu uns. Alexa verzichtete auf die Zuckerbomben und orderte stattdessen einen Kräutertee. Sie achtet sehr auf ihre Ernährung, aber ich für meinen Teil finde, dass Cappuccino und Muffins ein prima Frühstücksersatz sind.
Wir kamen auf meinen neuen Job zu sprechen, und ich erzählte Diana, was sich seit meinem gestrigen Aufbruch zum Ostfriesland-Reporter alles ereignet hatte.
»Zeig mir mal ein Foto von dem Kalski«, sagte sie.
Ich kramte den Zeitungsartikel hervor und reichte ihn ihr.
»Wahnsinn!« Dianas Augen wurden riesengroß. »Er und Sebastian könnten eineiige Zwillinge sein.«
»Eher Vater und Sohn«, gab ich zu bedenken. »Wobei ich auch das für unwahrscheinlich halte. Andreas Kalski verschwand vor gut vierzig Jahren, Sebastian ist erst Mitte dreißig. Es ist natürlich möglich, dass seine Mutter Andreas ins Ausland folgte und dort von ihm schwanger wurde, aber das bleibt eine rein theoretische Überlegung. Fragen kann ich sie jedenfalls nicht mehr, sie ist vor einigen Jahren gestorben.«
»Zumindest kann ich jetzt verstehen, warum dir die Sache keine Ruhe lässt. Es ist ja fast so, als würdest du versuchen, Sebastian aufzuspüren.«
Da konnte man mal wieder sehen, dass Friseurinnen eigentlich auch nur mit Kamm und Schere bewaffnete Psychologinnen waren. Vermutlich ist das eine Begleiterscheinung, wenn man sich tagtäglich die verschiedensten Lebens- und Leidensgeschichten seiner Kunden anhören muss.
»Ich hatte bis gestern gar nicht vor, in der Sache noch was zu unternehmen, aber jetzt … Ich wünschte, ich hätte diese blöde Internetrecherche nicht gestartet und das Foto nie gesehen. Zudem habe ich keine Ahnung, wo ich noch suchen soll, die frei zugänglichen Artikel im Internet habe ich alle abgegrast.«
Diana lachte. »Jetzt stehst du aber ganz schön auf dem Schlauch. Du sitzt doch direkt an der Quelle. Den Ostfriesland-Reporter gibt es seit Jahrzehnten, bestimmt findest du in den Archiven noch Unmengen an Informationen.«
Keine schlechte Idee. Ich wollte morgen ohnehin den Artikel über Alexa abgeben, da konnte ich das gleich miteinander verbinden.
Wir kamen auf die Hochzeit meiner Eltern zu sprechen, zu der Diana und Alexa natürlich auch eingeladen waren. Diana als meine langjährige Freundin, und bei Alexa war die Sache verwandtschaftsbedingt sowieso klar. Ich beichtete den beiden meine Notlüge in Kleiderfragen und gestand, dass ich bislang kein Kleid gefunden hatte, auf das meine Beschreibung zutraf.
»Ich kenne da einen Onlineshop, bei dem bekommst du alles. Du kannst sogar nach deinen Maßen bestellen, und die fertigen es für dich an.«
Diana gab mir die Internetadresse, und ich verabschiedete mich. Ich hatte das leidige Kleiderthema viel zu lange aufgeschoben, es wurde Zeit, sich der Herausforderung zu stellen.
Der Tipp mit dem Onlineshop erwies sich als absoluter Glücksgriff, ich fand ein graublaues, mittellanges Kleid mit mittellangen Ärmeln. Perfekt. Ich ermittelte meine Körpermaße, stellte fest, dass das Maßband beim letzten Frost im Winter irgendwie eingegangen sein musste, und tippte die Daten für die Bestellung ein.
Dann telefonierte ich mit Phil, der mir keine Neuigkeiten bezüglich Andreas Kalski mitteilen konnte, da sein ehemaliger Kollege Stefan, den er hatte fragen wollen, dieses Wochenende freihatte.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch vor dem großen Wohnzimmerfenster und überarbeitete meinen Artikel über Alexa. Zwischendurch blickte ich auf und sah durch die Scheibe zu den nahe gelegenen Blockbauten hinüber. Roter Backstein, graue Balkone, teilweise mit Grünspan überzogen. Auf einigen hing bunte Wäsche auf Wäscheständern, auf anderen boten Sonnenschirme Schutz vor der Frühlingssonne, wiederum andere schauten einfach leer und trostlos zu mir zurück.
Ich beendete mein Tagwerk, nahm mir ein Feierabendbier aus dem Kühlschrank, setzte mich zu O’Malley aufs Sofa und legte die Füße hoch. Momentan lief alles mit. Okay, abgesehen von Dianas Clown. Aber ich hatte ein Kleid für die Hochzeit gefunden, stand wieder in Lohn und Brot, und meine Mutter würde sich auch bald wieder berappeln, wenn ihr Standesbeamter aus dem Krankenhaus entlassen wurde und der Hochzeit nichts mehr im Wege stand. Irgendwie fügt sich eben doch immer alles zum Guten.
Dachte ich.
6
Ich schwebte mit Engelsflügeln über der Hochzeitsgesellschaft meiner Eltern. Die Gäste schauten zu mir hoch und riefen »Ah!« und »Oh!«, aber sie bewunderten nicht meine ätherische Schönheit, sondern zeigten mit den Fingern auf mich. Ich flog Kreise über ihren Köpfen, winkte und lachte. Bis ich begriff, dass ich ein Amor-Outfit trug, das nur aus einer Windel und einem Bogen mit Liebespfeilen bestand. Ich schoss die Pfeile ab, aber meine Zuschauer bewarfen mich mit Tomaten und trafen mich mitten ins Gesicht.
Ich öffnete die Augen. O’Malley saß auf meiner Brust und tappte mit seiner Vorderpfote auf meiner Wange herum. Ich fütterte ihn, duschte und stand danach ratlos vor meinem Kleiderschrank. Es würde sicherlich ähnlich warm werden wie in den letzten Tagen, aber ich hatte vergessen, meine Beine zu rasieren, also entschied ich mich für eine lange Jeans und ein blaues Stretch-T-Shirt.
Ich band meine dunkelblonden Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen, griff nach meiner Handtasche und setzte mich ins Auto. Nachdem ich mich durch den Verkehr in der Innenstadt gekämpft hatte, lenkte ich meinen Golf auf den Parkplatz des Ostfriesland-Reporters.
Den Bericht über Alexa hatte ich im Gepäck, aber Martin Jägers Bürotür war verschlossen. Ratlos, ob ich einfach unverrichteter Dinge wieder gehen sollte, lief ich vor seinem Büro auf und ab.
»Kann ich Ihnen helfen?« Die Stimme kam aus einem Büro hinter mir, ein grauer Lockenkopf schaute daraus hervor. Ich schätzte seine Trägerin auf etwa sechzig.
»Ich suche Herrn Jäger«, sagte ich. »Er hat mich als Gastautorin engagiert, und ich wollte ihm meinen ersten Artikel vorlegen. Er hat ihn bereits per E-Mail bekommen, aber ich dachte, ich schaue noch mal persönlich vorbei.« Um bei der Gelegenheit ein paar Informationen über Violetta und Andreas Kalski abzustauben, ergänzte ich stumm.
»Ach, dann müssen Sie Elli Vogel sein. Kommen Sie rein, Sie können ihn auch bei mir abgeben. Ich bin Petra Ulferts, Martins rechte Hand.«
Ich reichte ihr den Artikel und folgte ihr ins Büro, wo sie mir einen Besucherstuhl zuwies und meinen Bericht aus dem Umschlag zog. Sie setzte sich eine Lesebrille auf und überflog die ersten Zeilen meines Berichts.
Sie sah auf. »Ich habe Martin gleich gesagt, dass Sie nicht über die Ereignisse in der alten Brauerei schreiben würden. Mit Ihrer Cousine haben Sie eine gute Wahl getroffen.«
»Ich hatte eigentlich vor, über Violetta Kalski zu berichten.«
Sie dachte kurz nach. »Die Künstlerin? Ich erinnere mich an sie. Lebt sie denn überhaupt noch?«
Ich nickte. »In einer Seniorenresidenz in Norddeich. Haben Sie damals schon hier gearbeitet? Als ihr Sohn verschwand, meine ich.«
»Nein, ich bin erst einige Jahre später zum Team gestoßen. Aber Günther Fabricius hat regelmäßig über die Sache berichtet. Auch als das allgemeine Interesse an Andreas Kalskis Verschwinden nachließ, ist er am Ball geblieben. Herausfinden konnte er dann aber leider doch nichts mehr.«
»Ist er tot?«
Petra Ulferts lächelte, und ich merkte, dass ich ihre Worte missverstanden hatte. »Nein, er ist gesund und munter und fit wie ein Turnschuh. Aber es hat sich einfach nichts mehr ergeben. Als er dann vor ein paar Jahren in den Ruhestand ging, hatte sich die Sache vollends erledigt.«
»Besteht die Möglichkeit, die alten Artikel einzusehen?«, fragte ich.
»Natürlich.« Petra Ulferts überlegte. »Wie lange ist es her, dass er verschwand? Fünfunddreißig Jahre?«
»Vierzig Jahre und neun Monate«, sagte ich.
»Schon