Der falsche Friese. Martina Aden
wenn Sie sich direkt an Günther Fabricius wenden, er hat all seine Unterlagen und Notizen zu dem Fall aufbewahrt. Besuchen Sie ihn doch einfach mal, er spricht gern über die alten Zeiten.«
Günther Fabricius wohnte in einer Doppelhaushälfte in einer älteren Wohnsiedlung am Stadtrand. Die Kinder, die früher in diesen Häusern gelebt hatten, waren längst flügge geworden und hatten eigene Familien gegründet. Das bezeugte der halb verwitterte Sandkasten auf dem Spielplatz am Wendekreis der Sackgasse, der allem Anschein nach nur noch von den Siedlungskatzen als Katzenklo genutzt wurde.
Ich hielt vor der Hausnummer einundzwanzig, auf deren Auffahrt ein blauer Kleinwagen parkte, stieg aus und klingelte. Ein schlanker, grauhaariger Mann mit überraschend vollem Haar öffnete die Tür, ein übergewichtiger Jack Russell hopste mir entgegen und beschnüffelte meine Hosenbeine. Sie schienen nach O’Malley zu riechen, denn ich erntete ein erzürntes Bellen.
»Sie müssen Elli sein«, sagte Günther Fabricius. »Petra hat mich schon angerufen und von Ihrem Anliegen erzählt. Kommen Sie rein, bei einer Tasse Tee können wir alles besprechen.«
Er führte mich in eine Küche mit buchefarbener Küchenzeile. Ich sah mich um, während er das Wasser für den Tee aufsetzte und Tassen auf den Tisch stellte. Kaum Deko, alles sehr zweckmäßig eingerichtet. Sein Zuhause wirkte nicht so, als ob er es mit einer Frau teilte. Vielleicht war das auch der Grund für sein volles Haar.
Fabricius setzte sich auf den Küchenstuhl mir gegenüber, unter dem sich bereits sein Hund niedergelassen hatte. »Die Geschichte um Andreas Kalskis Verschwinden ist so lange her, ich hätte nicht gedacht, dass sich heute noch jemand dafür interessiert.« Er rieb sich das glatt rasierte Kinn und setzte eine nachdenkliche Miene auf, als müsste er sich die vergangenen Ereignisse in Erinnerung rufen.
»Warum waren Sie damals so hartnäckig an diesem Fall dran?«, fragte ich.
»Ich war neu in der Branche und dachte, wenn ich den Vermisstenfall aufkläre, könnte das mein Sprungbrett hin zu einer der ganz großen Tageszeitungen sein.« Er lächelte matt. »War es nicht, denn ich habe nichts herausgefunden. Ich dachte, irgendwann würde sich vielleicht doch noch eine Spur ergeben, weil jemand unvorsichtig wurde, sich verplapperte oder etwas in der Art. Aber es verlief alles im Sand.«
»Was ist Ihrer Meinung nach mit Andreas Kalski passiert?«
»Ganz ehrlich? Ich glaube, er ist einfach abgehauen. Seinen Freunden gegenüber soll er oft davon gesprochen haben, eines Tages ins Ausland zu gehen. Und verschiedene Augenzeugen wollten ihn am Tag seines Verschwindens als Anhalter an der Straße in Richtung Emden stehen gesehen haben. Am dortigen Bahnhof verliert sich seine Spur.«
»Petra Ulferts sagte mir, Sie hätten die alten Zeitungsberichte und Ihre Notizen von damals aufbewahrt. Dürfte ich sie mir vielleicht einmal ansehen?«
»Ja, natürlich. Moment.« Er erhob sich. »Jacky, unterhalte du unseren Gast, während ich die Unterlagen hole.« Er verließ die Küche, ich hörte ihn die Treppe hochrumpeln.
Der Hund war nicht gerade der geborene Unterhalter, denn er bedachte mich nur mit einem gelangweilten Blick und entsandte einen leisen Furz in den Raum. Kurze Zeit später kehrte sein Herrchen mit einem braunen Archivkarton zurück.
Er nahm ein Notizbuch heraus und blätterte darin. »Hier haben wir schon mal die wesentlichen Eckdaten. Der Vermisste war zum Zeitpunkt seines Verschwindens dreiundzwanzig Jahre alt, etwa einen Meter fünfundachtzig groß, schlank, hatte braune Augen und schulterlange blonde Haare. Am einundzwanzigsten August – also dem Tag seines Verschwindens, einem Montag – trug er eine blaue Jeans und ein auffälliges gelbes T-Shirt mit Sternendruck auf der Vorderseite. Gelbe T-Shirts waren sein Markenzeichen. Dazu trug er weiße Turnschuhe.«
Er schob mir den Karton zu. »Sehen Sie selbst. Sie können sich die Unterlagen auch gerne ausleihen, ich habe mir geschworen, die Finger davon zu lassen.«
»Warum?«
»Ich habe schon zu viel Lebenszeit damit vergeudet, es gibt ja doch nichts Neues mehr in dem Fall. Von Zeit zu Zeit habe ich die Geschichte wieder ausgegraben, etwa wenn ein runder Jahrestag seines Verschwindens anstand, aber ergeben hat sich da nichts mehr.«
Ich blätterte in einem der Ordner, während ich die obligatorischen drei Tassen Tee trank, und öffnete schließlich einen Umschlag, in dem sich Fotos des Vermissten und seiner Freunde befanden. Auf fast jedem war er mit einer Frau im Arm zu sehen, außerdem mit Männern, die ihm bewundernde und teils neidische Blicke zuwarfen.
Auf einem der Fotos entdeckte ich etwas, das mich den Atem anhalten ließ. Ein Pärchen im Vordergrund lächelte in die Kamera, im Hintergrund beugte sich Andreas Kalski zu einer jungen Frau und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Er trug eines seiner typischen gelben T-Shirts. Die Frau lächelte verliebt.
»Wer hat Ihnen dieses Foto gegeben?« Mit zitternder Hand hielt ich ihm den Abzug entgegen.
»Andreas Kalskis bester Freund, Frank Heykes. Das ist der, der mit seiner Freundin im Vordergrund zu sehen ist. Die Namen der abgebildeten Personen müssten auf der Rückseite stehen. Ich habe sämtliche Namen notiert, sofern sie mir bekannt waren.«
Ich drehte das Foto um, und mein Verdacht bestätigte sich.
»Schneidiger Kerl, der Frank. Groß, schlank, lange Haare.« Fabricius geriet regelrecht ins Schwärmen. »Die Mädels waren nach ihm genauso verrückt wie nach Andreas.«
Ich bedankte mich und machte mich zum Aufbruch bereit.
»Sie wollen schon gehen?« Er betrachtete mich mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck.
»Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch einen Termin habe«, log ich.
Fabricius und sein Hund begleiteten mich zur Tür. »Es hat Spaß gemacht, mal wieder in Erinnerungen zu schwelgen. Sie halten mich doch auf dem Laufenden, Elli? Schauen Sie ruhig jederzeit vorbei, wenn Sie Fragen haben.«
»Danke, das werde ich machen.« Ich hastete zum Auto, stellte den Karton auf den Beifahrersitz und ließ mich hinter das Lenkrad fallen. Ich lehnte mich zurück und atmete ein paarmal tief durch, dann betrachtete ich das Foto erneut.
Unmöglich, dass ich mich jetzt noch aus dem Vermisstenfall heraushalten konnte. Immerhin kannte ich die Frau neben Andreas Kalski nur zu gut.
Es war meine Mutter.
7
Schlimm genug, dass meine Eltern so was wie ein Liebesleben hatten – irgendwie mussten meine Geschwister und ich ja entstanden sein –, meine Mutter nun aber auch noch als Groupie eines stadtbekannten Casanovas zu sehen, überforderte mich ein wenig. Ich rief sie an und verabredete mich mit ihr in ihrer Mittagspause in einem Café unweit der Ostfriesischen Landschaft, in der sie beim Archäologischen Dienst arbeitet.
Meine Mutter war wie immer überpünktlich und saß schon an einem der kleinen runden Tische vor dem Café, als ich ankam. Sie stand auf und umarmte mich zur Begrüßung. »Hallo, Eleonore. Ist es dir recht, wenn wir draußen sitzen? Ich brauche dringend frische Luft.«
»Klar, kein Problem.«
Wir setzten uns, nach kurzer Zeit kam eine kräftige Frau auf klackernden Absätzen herbeigelaufen und nahm unsere Bestellungen auf. Ebenso klackernd verschwand sie wieder.
»Wie geht es Hans?«, fragte ich, da ich nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen wollte.
»Gut so weit, er wird morgen wahrscheinlich schon wieder entlassen.«
Sehr gut. Und die perfekte Voraussetzung, um meine Mutter mit dem Foto zu konfrontieren. »Ich habe noch ein bisschen über Andreas Kalski recherchiert, den Sohn der Künstlerin, von der ich dir erzählt habe. Die du nicht kennst.«
Meine Mutter zuckte fast unmerklich zusammen. »Ich dachte, der Bericht hätte sich erledigt, du wolltest doch über Alexa schreiben.«
»Das habe ich auch, aber die Kalski-Sache hat mich einfach interessiert. Daher habe ich den Reporter aufgesucht, der früher über den