Der falsche Friese. Martina Aden
Stücken gegangen ist?«
»Nein! Nur weil etwas logisch ist, heißt es nicht, dass es sich zwangsläufig so zugetragen hat. Sehen Sie, ich wusste es, Sie sind genau wie alle anderen. Erst spielen Sie die Interessierte und Betroffene, die mir helfen möchte, endlich etwas über das Schicksal meines Sohnes zu erfahren, aber letztlich wollen Sie doch nur einen Artikel für Ihr Schundblatt schreiben oder bewirken, dass Ihre Mutter wieder ruhig schlafen kann.«
»Was haben Sie eigentlich gegen meine Mutter?« Ich hatte gehofft, ihr dadurch ein wenig den Wind aus den Segeln zu nehmen, erreichte aber das genaue Gegenteil.
»Sie hat meinen Sohn auf dem Gewissen.«
Das haute mich ganz schön aus den Socken. »Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte ich perplex.
»Cassandra hat es gesehen.« Sie spuckte mir die Worte regelrecht entgegen. »Schon Wochen vor Andreas’ Verschwinden hat sie gesehen, dass Maria seinen Tod herbeiführen würde. Daher war ich von Anfang an gegen diese Beziehung, aber er wollte einfach nicht auf mich hören.«
»Wie bitte? Das ist doch lächerlich. Wer ist überhaupt diese Cassandra?«
»Sie sollten jetzt gehen, es war ein Fehler, mit Ihnen zu sprechen.« Violetta Kalski erhob sich, ging mit überraschend energischen Schritten zur Tür und öffnete sie schwungvoll. Widerstrebend folgte ich ihr.
»Frau Kalski, ich will doch nur –«
Sie ließ mich nicht ausreden, verwirrt fand ich mich Sekunden später auf dem Flur wieder.
»Ich werde Sie am Empfang auf die Liste der unerwünschten Besucher setzen lassen. Kommen Sie nie wieder hierher.«
Violetta Kalski schlug die Tür hinter mir zu, ihr »Leben Sie wohl« war nur noch dumpf zu hören. Und ich war mir ziemlich sicher, dass sie es nicht ernst meinte.
9
Ich stieg über die tote Ratte, die O’Malley mir zur Begrüßung vor die Wohnungstür gelegt hatte, und ließ mich grübelnd aufs Sofa fallen. Was konnte es mit Violetta Kalskis Bemerkung auf sich haben, meine Mutter sei für den Tod ihres Sohnes verantwortlich? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, warum jemand so etwas behaupten sollte oder wer diese Cassandra war, auch das Internet spuckte nichts Brauchbares aus.
So kam ich nicht weiter. Ich musste die Sache anders angehen. Meine Mutter und Alexa kannten durch ihre Jobs viele Leute in der Gegend, vielleicht war ja zufällig auch eine Cassandra darunter? Ich griff zum Telefon und entschied mich, es zuerst bei Alexa zu versuchen, da meine Cousine momentan eindeutig in der besseren nervlichen Verfassung war.
»Natürlich kenne ich Madame Cassandra«, sagte Alexa. »Ich habe mir von ihr allerdings noch nie die Zukunft vorhersagen lassen.«
»Ach du liebe Güte, sie ist Wahrsagerin?«
»Sogar eine recht bekannte.«
»So bekannt kann sie nicht sein, bei meiner Onlinesuche habe ich kein einziges Wort über sie gefunden.«
»Angeblich belegt sie alle Leute, die sich im Internet über sie austauschen, mit einem Fluch.«
»So ein Blödsinn.«
»Sag das nicht, eine ehemalige Klassenkameradin von mir hat mal einen Erfahrungsbericht über sie in einem Forum gepostet. Kurz darauf bekam sie Läuse, und ihr Mann brannte mit der Babysitterin durch. Die Läuse wurde sie erst wieder los, als sie den Bericht gelöscht hatte, ihren Kerl hat sie gar nicht mehr zurückbekommen.«
Ich biss mir auf die Unterlippe. »Auf einen Fluch kann ich wirklich gut verzichten.«
»Halte dich einfach an das, was Madame Cassandra dir sagt, dann hast du nichts zu befürchten.«
Ich fütterte O’Malley, holte mir ein Bier und eine Tüte Chips als Abendbrotersatz aus der Küche und machte mich daran, die Unterlagen von Günther Fabricius genauer durchzusehen. Bisher hatte ich die Berichte und Notizen nur überflogen, nun war es an der Zeit, das Ganze etwas strukturierter anzugehen.
Um kurz vor zehn hatte ich mir einen Überblick über Andreas Kalskis ehemaligen Freundeskreis verschafft. Dabei stellte ich fest, dass Frank Heykes wirklich nichts von der Verlobung an Günther Fabricius weitergegeben hatte, kein einziges Wort davon fand sich in den Notizen.
Rita Janssen war Frank Heykes’ feste Freundin gewesen. Die beiden waren etwa vier Wochen vor Andreas Kalski und meiner Mutter zusammengekommen. Sie hatte die Aussagen und Vermutungen ihres Freundes im Wesentlichen bestätigt, ansonsten aber nur wenige Berührungspunkte mit Andreas gehabt. Irgendwann musste sie geheiratet haben, denn Fabricius hatte über ihren Nachnamen den Namen Lugner geschrieben, dazu den Vermerk »verzogen nach Berlin«.
Inge Behrends war ebenfalls eine langjährige Freundin des Vermissten und zwei Jahre jünger als er. Keine Notiz über einen geänderten Nachnamen. Sie war die Tochter eines Bauunternehmers und hatte in der siebten Klasse zusammen mit Andreas Kalski die Schulbank gedrückt. Wie es aussah, hatte er entweder nur kurze Schulfreundschaften geschlossen, die so lange anhielten, wie das jeweilige Schuljahr dauerte, oder aber Freunde fürs Leben gefunden.
Norbert Coordes und Dieter Kuhlmann, die beiden Letzten im Bunde, waren so alt wie meine Mutter und gehörten dem Jahrgang an, zu dem Andreas Kalski zuletzt hinzugestoßen war. Von beiden hatte Günther Fabricius ein Foto ins Notizbuch geklemmt. Coordes war ein hochgewachsener Sportler, Kuhlmann ein etwas schüchtern dreinblickender Brillenträger.
Die Clique war zum letzten Mal auf der Geburtstagsfeier von Norbert Coordes zusammengekommen, am Freitag, bevor Andreas verschwand. Keiner von ihnen schien sich wegen seines Abtauchens zunächst Sorgen gemacht zu haben. Selbst als Fabricius zwei Wochen später zum ersten Mal mit Dieter Kuhlmann gesprochen hatte, war dieser davon ausgegangen, dass Andreas nur einen Städtetrip machte und bald wieder nach Hause zurückkehren würde.
Ich blätterte zu Violetta Kalskis Angaben. Es war damals häufiger vorgekommen, dass ihr Sohn sich ein oder zwei Tage lang nicht zu Hause blicken ließ, daher hatte sie die Vermisstenanzeige erst drei Tage nach seinem Verschwinden aufgegeben. Ansonsten stand dort das, was sie mir heute bereits erzählt hatte.
Bei meiner Mutter verhielt es sich ähnlich. Sie hatte die mir bekannten Details mit Fabricius besprochen. Auffällig war bei ihrer Aussage jedoch, dass sie damals keineswegs davon ausgegangen war, Andreas habe Geheimnisse vor ihr gehabt und sei ins Ausland gegangen, vielmehr glaubte sie zunächst an einen Unfall mit möglicherweise tödlichem Ausgang, nach dem Andreas nicht gefunden worden war.
Ich widmete mich dem zweiten und dritten Notizbuch mit den Befragungen der Nachbarn und unzähligen lockeren Bekanntschaften von Andreas. Das Ergebnis war ernüchternd. Niemand hatte Andreas am Montag beim Verlassen des Hauses gesehen. Die übrigen Gesprächspartner erweckten größtenteils den Eindruck, einfach nur ihren Namen in der Zeitung lesen und sich im Schatten seines Ruhms sonnen zu wollen.
Ich fragte mich, wie Fabricius es angestellt hatte, bei dieser mageren Informationslage so viele Artikel unters Volk zu bringen, wie ich in der Kiste fand. Wenig später kannte ich den Grund: Da er kaum brauchbare Details zu Andreas’ Verschwinden vorweisen konnte, hatte er sich einfach darauf verlegt, die Gerüchte, die über die Kalskis in Umlauf waren, aufzugreifen. Nachdem er die Ausreißer-Theorie als Tatsache dargestellt hatte, ging es vorrangig um die Gründe für sein Abtauchen, von denen die Suche nach seinem unbekannten Vater oder die mögliche Flucht vor rachsüchtigen Geliebten ganz oben auf der Liste standen. Auch angebliche Augenzeugen, die den Vermissten in Spanien oder Frankreich gesehen haben wollten, wurden ins Spiel gebracht und Zugfahrpläne als Beweise herangezogen. Von seinem Einstieg in die Hamburger Rotlichtszene war die Rede, da die Kontakte durch seine Mutter bestanden. Kein Wunder, dass Violetta Kalski so verbittert war, wenn es um dieses Thema ging. Fabricius hatte tatsächlich nicht beabsichtigt, ihr auf irgendeine Art und Weise zu helfen.
Bei den allgemeinen Notizen im vierten Band las ich, dass sich nach dem Erscheinen von Fabricius’ erstem Artikel mehrere Augenzeugen beim Ostfriesland-Reporter und der Polizei gemeldet hätten. Sie gaben an, Andreas Kalski am Tag seines Verschwindens auf der Strecke