Der falsche Friese. Martina Aden
ins Auge gesprungen. Komisch nur, dass von insgesamt vier verschiedenen Stellen die Rede war, denn die Strecke war nicht besonders lang. Auch wurde er weder im Bahnhofsgebäude in Emden gesehen noch in einem der Züge.
In diesem Buch fand ich auch die Namen der beiden Privatdetektive, die Violetta Kalski beauftragt hatte. Der erste hieß Otto Saathoff, doch wie mir eine nachträglich eingefügte Notiz am Rand des Notizbuches mitteilte, war er vor elf Jahren verstorben. Keine Chance also, von ihm noch etwas in Erfahrung zu bringen. Sein Nachfolger hieß Georg Hoffmeyer. Fabricius hatte das damalige Alter und die Adresse des Privatdetektivs notiert, demnach war er inzwischen Anfang siebzig und lebte in Georgsheil, also ganz in der Nähe. Die Adresse war noch aktuell, und ich beschloss, ihm gleich morgen Vormittag einen Besuch abzustatten. Aber erst, nachdem ich mit Madame Cassandra gesprochen hatte. Ich wollte wirklich zu gern wissen, warum sie meine Mutter bezichtigte, für Andreas Kalskis Tod verantwortlich zu sein.
Mein Telefon klingelte, es war Phil. »Noch viermal schlafen«, sagte er. »Dann kann ich dir endlich bei deiner Recherche behilflich sein.«
»Ich berichte nicht über das Sex-Thema.«
»Dann wüsste ich aber etwas, bei dem du mir behilflich sein könntest.«
Sein Tonfall grenzte schon fast an sexuelle Belästigung. Na gut, so richtig belästigt fühlte ich mich nun auch wieder nicht. Ganz im Gegenteil.
»Wenn du deine Libido wieder im Griff hast, könntest du mir wirklich helfen.«
»Schieß los.«
»Ich beschäftige mich jetzt doch mit dem Vermisstenfall Andreas Kalski.« Ich berichtete ihm von der Verbindung zwischen Andreas und meiner Mutter. »Hast du von deinen Auricher Kollegen etwas erfahren können?«
»Stefan hat nachgesehen, aber es gab niemals eine heiße Spur in dem Fall. Die ermittelnden Beamten sind davon ausgegangen, dass er sich ins Ausland abgesetzt hat, und auch in den Jahren danach gab es nie einen Hinweis, der auf ein Verbrechen oder einen Unfall hingedeutet hätte. Aber da ist noch etwas.«
»Und das wäre?«
Sein Tonfall wurde ernst. »Ich habe mich gefragt, warum du bei unserem letzten Telefonat auf einmal doch nach Infos über diesen Fall gefragt hast.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass er mit meiner Mutter verlobt war.«
»Das weißt du aber erst seit heute.« Er machte eine Pause. »Die Ähnlichkeit ist ja schon verblüffend.«
Ich wusste natürlich, worauf er hinauswollte. Letzten Herbst, als ich Phil kennenlernte, hatte es auch zwischen Sebastian und mir heftig geknistert. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, für wen ich mich entschieden hätte, wäre Sebastian noch unbescholten und nicht untergetaucht, auf der Flucht vor der Polizei. Phil wusste das, und ich glaube, das war einer der Gründe, warum er ihn gern hinter Gittern sehen wollte.
»Sind die beiden miteinander verwandt?«, fragte Phil.
»Ich weiß es nicht. Sebastians Eltern leben nicht mehr, und ob es sonst noch Familienangehörige gibt, weiß ich nicht.« Es fiel mir schwer, Sebastians Namen Phil gegenüber auszusprechen.
»Du suchst aber wirklich nur nach diesem Andreas? Oder führt deine Suche dich noch weiter?«
»Willst du mich verhören? Es geht nur um Andreas.«
»Elli, du würdest es doch nicht für dich behalten, wenn du eines Tages herausfinden würdest, wo Sebastian steckt?«
»Bestimmt nicht.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Zu mindestens sechsundneunzig Prozent.
10
Madame Cassandra lebte in einer hellblauen Villa mit weiß umrahmten Fenstern in der Nähe der Stiftsmühle in Aurich. Ich war unangemeldet aufgetaucht, aber wenn sie wirklich hellseherische Fähigkeiten hatte, würde sie mich ohnehin erwarten.
Die Wahrsagerin entpuppte sich als stämmige Frau im hohen Rentenalter mit struppigen, schwarz gefärbten Haaren und blassem Teint. Ihre Augen waren dick mit Kajal umrandet, und sie schielte. Sie trug ein selbst gemachtes Batikshirt, ich erinnerte mich, so etwas auch mal gemacht zu haben, aber das war in einem Schulprojekt in der siebten Klasse gewesen.
»Guten Tag. Ich heiße Elli Vogel. Ich bin hier, weil ich mit Ihnen über die Vergangenheit sprechen möchte.«
»Tritt ein.« Madame Cassandra sprach langsam und mit rauchiger Stimme, so als wollte sie besonders geheimnisvoll wirken, wohl um ihr Batikshirt zu kompensieren.
Ich trat ein und sah mich um. Ihr Haus wirkte ganz und gar nicht übersinnlich. Motivtapeten zierten die Wände, auf dem Parkettfußboden lagen flauschige Läufer. Ich folgte Madame Cassandra, die mit eigenartig federnden Schritten vor mir herging, den Flur entlang, ihr buschiges Haar wippte bei jedem Schritt, als habe es Mühe, sich mit der Schwerkraft abzufinden.
Sie öffnete eine Tür und ließ mir den Vortritt. »Willkommen im Raum der Erkenntnis.«
»Oh, wow!« Ich wusste vor lauter Kuriositäten nicht, wohin ich zuerst blicken sollte. Aus einem Regal an der rechten Zimmerseite starrte mir ein Schrumpfkopf entgegen. Ich hoffte inständig, dass es sich um ein albernes Souvenir und nicht um einen echten handelte. Außerdem beinhaltete das Regal Unmengen an getrockneten Kräutern, daneben vegetierten undefinierbare Gebilde in verstaubten Einmachgläsern vor sich hin. Ein Fenster, das von dunkelblauen Vorhängen gesäumt wurde, erlaubte einen Blick nach draußen in die Wirklichkeit, umrahmt von unzähligen Traumfängern. Auf einem runden Tisch stand eine Kristallkugel, ein penetranter Patschuligeruch hing im Raum, der von einem abgebrannten Räucherstäbchen in einer Zimmerecke herrührte.
Madame Cassandra wies mir einen Stuhl an dem runden Tisch zu und setzte sich mir gegenüber. Es gefiel mir ganz und gar nicht, dass ich von hier aus den Schrumpfkopf genau im Blick hatte. Obwohl seine Augen geschlossen waren, fühlte ich mich von ihm beobachtet. Eine Gänsehaut kroch mir über den Rücken.
Die Wahrsagerin richtete ihren Silberblick auf mich. »Was begehrst du zu erfahren?«
»Sollten Sie das nicht bereits wissen?«
Sie schielte jetzt noch ein wenig mehr, mit einer unwirschen Geste warf sie ihr Haar über die Schulter und seufzte. »Eine Skeptikerin. Das habe ich gleich erkannt. Wenn du deinen Geist verschließt, kann ich dir nicht helfen. Du musst mich deine Energien spüren lassen.« Sie streckte die Arme aus, bis sie mein Gesicht fast mit den Fingern berührte, so als wollte sie mir die Energien direkt aus dem Schädel ziehen.
Ich lehnte mich zurück, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen. »Ich bin nicht hier, um etwas über mich zu erfahren, sondern weil ich wissen möchte, was Andreas Kalski vor vierzig Jahren widerfahren ist. Seine Mutter hat mir erzählt, dass sie damals mit Ihnen über ihren Sohn gesprochen hat.« Dass sie mich bei dieser Gelegenheit davongejagt und mir verboten hatte, mich weiter mit dem Fall zu beschäftigen, verschwieg ich lieber. Käme bestimmt nicht gut an.
»Sein Verschwinden liegt lange zurück.«
Ich nickte. »Haben Sie eine Ahnung, was mit ihm passiert ist?«
»Allerdings.« Madame Cassandra lehnte sich mit ernstem Gesichtsausdruck gegen die Rückenlehne ihres Stuhls. »Er ist gestorben.« Sie hob die Schultern, als sei das eine ganz logische Schlussfolgerung.
»Warum sind Sie sich da so sicher?«
»Weil ich mit seinem Geist gesprochen habe. Wenige Wochen nach seinem Verschwinden.«
Ich konnte nicht verhindern, dass meine Augenbrauen in Richtung Haaransatz wanderten. »Aha. Und was hat sein Geist Ihnen mitgeteilt? Wie ist er gestorben?« Ich glaubte zwar nicht eine Silbe von dem, was sie mir da auftischte, aber ihre Theorie zu seinem Ableben interessierte mich doch.
»Das konnte er mir nicht sagen. Sein Tod trat völlig unerwartet ein, er hat ihn nicht kommen sehen.«
Ich hätte Wahrsagerin werden sollen.