Gestalten mit Licht und Schatten. Oliver Rausch
Gestaltungselement der Fotografie, dass Sie sich ihm nur schwer entziehen können. Es wirkt sofort und direkt auf das Gefühl des Betrachters. Zeigt man ein Bild nur für einen ganz kurzen Augenblick – so kurz, dass sich das Motiv nicht richtig erkennen lässt (zum Beispiel eine Zehntelsekunde auf einem Computermonitor) –, so kann der Betrachter dennoch sehr wohl wahrnehmen, ob es sich um ein strahlendes, fröhliches oder ein düsteres, melancholisches oder auch ein weiches, träumerisches Bild handelt. Das Licht ruft unvermittelt Emotionen hervor und lässt den Betrachter die Grundaussage eines Bildes erfassen, noch bevor er das Motiv erkennt.
Starten Sie mit folgendem Experiment
Wählen Sie aus einer großen Menge an Fotos zehn Lieblingsbilder aus, die Sie in besonderer Weise ansprechen. Das können auch Fotos von absoluten Anfängern sein, in denen der klassische Bildaufbau durch Akzentsetzung und Linienführung noch eher schwach ausgeprägt ist, etwa auch Urlaubsfotos. Entscheiden Sie einfach aus dem Bauch heraus. Nur verzichten Sie bitte auf Fotos von süßen Kindern oder jungen Tieren, denn gegen so stark emotional aufgeladene Motive kommt auch die beste Gestaltung von der Wirkung her nicht an.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben die von Ihnen ausgewählten Bilder »Tiefe«, sie besitzen etwas »Strahlendes«, sprechen Sie »emotional« an. Diese Bilder haben tatsächlich etwas Ursächliches gemein: Das Licht kommt aus einer bestimmten Richtung. Der Lichtursprung liegt bei diesem Experiment (fast) immer in Richtung einer gedachten Halbkugel vor dem Fotografen, also von links oder rechts aus Kamerasicht, von sehr steil oben oder auch als Gegenlicht. Eventuell handelt es sich auch um Nachtaufnahmen, dann leuchten die Objekte selbst. Meist müssen es noch nicht mal spannende Motive oder spektakulär gestaltete Aufnahmen sein. Das Licht allein vermittelt diese starke Wirkung. Denn Licht ist ein sehr stark auf die Emotionen wirkendes Stilelement der Fotografie, wenn nicht sogar das stärkste.
In nur ganz wenigen Ausnahmefällen kommt das Licht aus Richtung einer gedachten Halbkugel hinter der Kamera. Die Lichtquelle befindet sich hier hinter dem Fotografen bzw. leicht seitlich oder erhöht von ihm. Meist handelt es sich dann aber auch um ein Bild mit einem absolut sensationellen Objekt, gegen das die Gestaltung nicht zu bestehen brauchte.
Das Ziel des Buches
Die Lichttheorie in diesem Buch gibt Ihnen mit ihren sogenannten Hauptlichtarten ein Instrumentarium an die Hand, mit dem Sie die Grundaussage des Bildes oder auch die Grundstimmung, die es beim Betrachter auslösen wird, vorherbestimmen und somit gezielt gestalten können.
Dabei ist die Wahl des eigentlichen Motives eher zweitrangig. Die Lichttheorie widmet sich der Ausleuchtung von fast allen Motiven wie Menschen, Landschaften, Architektur oder den meisten Stillleben. Die gewünschte Bildstimmung kann bei einem beliebigen Motiv schon allein durch das verwendete Hauptlicht von strahlend, leuchtend freundlich, heiter über markant, aussagekräftig, charaktervoll bis hin zu düster, melancholisch, gefährlich oder diabolisch reichen.
Durch weitere Techniken wie unterschiedliche Kontrastbeeinflussungen lassen sich diese Grundstimmungen in sehr feinen Abstufungen ausformulieren. Die Lichtgestaltung wird so zu einem Werkzeug der Bildgestaltung, das die Grundaussage eines Bildes bewusst planen und die emotionale Wirkung steuern lässt. Die Lichtgestaltung wird also in den Dienst der kommunikativen und emotionalen Aspekte der Fotografie gestellt.
Zudem sollen Objekte möglichst gut erkennbar, das heißt mit ihrer Plastizität und Oberflächenbeschaffenheit, gezeigt werden. Schließlich geht es in der Fotografie unter anderem darum, in einem zweidimensionalen Medium die dreidimensionalen Eigenschaften der abgebildeten Objekte überzeugend darzustellen. Ein Bild erhält unter anderem erst durch ein entsprechendes Licht seine Tiefenwirkung.
Ein weiterer Aspekt der vorgestellten Lichttheorie ist es, mit einer spannenden Akzentsetzung und sinnvollen Linienführung sowie mit ausgewogener Flächenaufteilung den Blick des Betrachters so geschickt durch das Bild zu führen, dass er die wesentlichen Bereiche des Bildes immer wieder betrachtet und von weniger wichtigen oder gar störenden Motivteilen weggelenkt wird. Die Linienführung lässt sich zudem nutzen, um bei dem Betrachter eine bestimmte emotionale Wirkung zu erzielen. Zum Beispiel kann sein Blick einer fröhlichen oder gedrückten Grundstimmung entsprechend eher in die oberen oder unteren Bildteile gelenkt werden.
All diese gestalterischen Effekte, die Grundstimmung, die räumliche Präsenz in einem flachen Bild und die Blickführung, sollten sich möglichst gegenseitig verstärken und so dem Bild eine intendierte Spannung und Aussage mitgeben.
Diese und weitere Aspekte von Licht stelle ich Ihnen zunächst anhand sehr einfacher Studioporträts vor. Auch wenn Sie selbst eher draußen und vor Ort fotografieren, lade ich Sie ein, zunächst den kleinen Umweg durch das Studio (das kann auch Ihr Wohnzimmer sein) zu gehen. Sie benötigen im einfachsten Fall nur eine Baulampe, mit der Sie Ihre ersten Erfahrungen sammeln und das Licht »sehen lernen« können. Der Umweg über das kontrollierte Ausleuchten im Studio hilft Ihnen, in kurzer Zeit viele unterschiedlichste Lichtwirkungen zu erkunden und Ihr Auge zu schulen, während Sie im Freien von der Tageszeit und der Witterung abhängig sind. Dabei werde ich das praktische Vorgehen beim Ausleuchten schrittweise erläutern, auf mögliche Wirkungen hin analysieren und verbreitete Missverständnisse oder auch Fehlerquellen ansprechen.
Das Buch orientiert sich an der Reihenfolge, in der die praktischen Schritte und Überlegungen beim Ausleuchten eines Motives in der Regel erfolgen sollten. Zu Beginn steht die Wahl der Lichtart entsprechend der Grundaussage und Stimmung des gewünschten Bildes mit einer dafür ausgewählten Lichtquelle und ihren speziellen Eigenschaften. Es folgt die Kontrastanpassung durch Aufhellung der entstehenden Schatten, anschließend werden Effekt- und Hintergrundbeleuchtung gesetzt.
Ich werde Ihnen in diesem Buch zunächst drei grundlegende »Hauptlichtarten« vorstellen, die ein Objekt in einer jeweils anderen und sehr charakteristischen, vor allem aber vorhersagbaren Grundstimmung erscheinen lassen. Zugleich führen diese Lichtarten zu einer spannenden Akzentsetzung und schwunghaften Linienführung, wodurch die Formen deutlich hervortreten und Plastizität vermitteln. Zusätzlich ergeben sich spannende Flächenaufteilungen, sodass der klassische Bildaufbau durch die Lichtführung unterstützt wird. Daher sind diese drei Hauptlichtarten sehr geeignet, um sich dem Thema Licht und Schatten zu nähern. Der Umgang mit ihnen schult Ihre Wahrnehmung für die genannten Aspekte, und das vermittelt Sicherheit im Gestaltungsprozess.
Haben Sie sich die Grundlagen der Lichttheorie anhand von einfachen Porträts erarbeitet, lässt sich diese Theorie auch auf mehrere Personen, zum Beispiel bei Gruppenporträts, anwenden. Im nächsten Schritt können Sie das kontrollierte Umfeld des Studios verlassen und die Theorie auch auf alle anderen Lichtsituationen übertragen, so zum Beispiel auf Porträts bei Tageslicht on Location, bei Available Light oder bei Verwendung des Systemblitzes. Die Lichttheorie lässt sich mit jeder Art von Lichtquelle umsetzen, was sie sehr universell macht.
Im letzten Schritt können Sie die Theorie der Lichtgestaltung auf alle anderen Motive verallgemeinern: Landschaft, Architektur, Stillleben, Mode, Reportage etc. Die in der vorgestellten Lichttheorie behandelten Motive müssen das Licht lediglich vorwiegend diffus reflektieren. Das betrifft die weitaus meisten Motive. Ausnahmen bilden lediglich rein spiegelnd reflektierende Oberflächen (Glas und polierte Metalle zum Beispiel in der Produktfotografie), die einer anderen Technik und Arbeitsweise als der hier vorgestellten bedürfen.
Die vorgestellte Lichttheorie können Sie zudem in den unterschiedlichsten Arbeitsweisen nutzen. Nicht nur die geplanten Studioaufnahmen, auch spontane Situationen bei Tageslicht sind aus lichtgestalterischer Sicht beherrschbar. Die Theorie eröffnet Ihnen die Möglichkeit, durch die richtige Wahl Ihres Kamerastandpunktes und der passenden Blickrichtung das Licht und seine Wirkung im Bild zu steuern und gestalterisch zu nutzen. Sie sollten sich in einer selbst gebauten Studiosituation oder einer zufällig gefundenen Lichtsituation on Location deren Wirkung so bewusst sein, dass Sie sie für Ihre Zwecke nutzen und auch nach persönlichen Wünschen abwandeln können.
Es geht mir mit diesem Buch vor allem darum, Ihre Wahrnehmung zu schulen und die einzelnen Wirkungen von Licht im Bild spürbar und damit gestalterisch nutzbar zu machen. Sie sollten lernen, Licht und Schatten in ihrer