Gestalten mit Licht und Schatten. Oliver Rausch

Gestalten mit Licht und Schatten - Oliver Rausch


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klassischen Porträts, nutzt das Licht zum Beispiel fast immer auf der langen Seite seiner Modelle und erhält dennoch sehr plastisches Licht. Ähnlich ging es bisweilen in der niederländischen Malerei des Barock und einigen anderen Stilrichtungen zu, wo das Licht oft auf der langen Seite des Modells zu finden ist. Es gibt eben neben der Plastizität noch viele andere Aspekte, die bei der Ausleuchtung eines Modells berücksichtigt werden sollten. Zum Beispiel wirkt ein Gesicht mit Licht auf der kurzen Seite deutlich schlanker als eines mit Licht auf der langen Seite. Dadurch ist es zum Beispiel möglich, bei stark asymmetrischen Gesichtern die größere Gesichtshälfte in den Schatten zu legen, wodurch diese kleiner und das Gesicht insgesamt wieder symmetrischer erscheint.

      Beim Porträt eines Modells, das direkt in die Kamera blickt, sind beide Seiten gleich lang. Für die Plastizität der Ausleuchtung ist es in diesem Fall egal, auf welche Seite das Licht fällt.

      In einem Bild sind bestimmte Richtungen und Positionen mit bestimmten Assoziationen verknüpft. Links im Bild verorten wir oft die Heimat, das Zuhause, den Startpunkt, das Bekannte oder die Vergangenheit. Auf der rechten Seite liegt eher die Zukunft, das Unbekannte, das zu Entdeckende oder Neue. Die Zeitachse in einem Foto läuft, wie die Leserichtung von Texten, von links nach rechts. Vergleichen Sie dazu einmal das folgende Porträt mit dem auf der nächsten Seite.

      Wenn das Modell auf der linken Seite im Bild platziert wird und nach rechts blickt, schaut es eher »in Richtung Zukunft«, aus der ihr das Licht bereits »entgegenkommt«. Auf der nächsten Seite ist dasselbe Modell rechts platziert, hat also schon einiges erlebt und schaut nach links »zurück in die Vergangenheit«, wo ihm »das Licht des Heimathafens den Weg weisen soll«, um es einmal etwas poetisch zu formulieren.

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      Abbildung 1–6

      Die Positionierung eines Akzentes auf der linken Bildseite und eine Blickrichtung nach rechts interpretieren wir oft mit einem Blick in Richtung Zukunft.

      Diesen Effekt nutzen zum Beispiel viele Hollywood-Filme. Beobachten Sie einmal aufmerksam, aus welcher Richtung die Personen am Anfang eines Filmes »eingeführt« werden. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel dafür liefert die Produktion »Die Reise der Pinguine«: Dort sehen Sie zu Beginn des Filmes die Pinguine, wie sie von links nach rechts durch das weiße, verschneite Bild laufen oder aus Löchern im Eis an Land hüpfen, wo sich die Gruppe sammelt. Anschließend verlassen die ersten Tiere die Gruppe nach rechts und der Rest folgt ihnen. Ein riesiger Tross Pinguine läuft in die unwirsche Antarktis – und zwar von links nach rechts durchs Bild. Dem Betrachter ist sofort beim Erscheinen der Pinguine klar, dass hier der Startpunkt einer Reise ins Ungewisse liegt. Am Ende des Filmes, wenn die Pinguine ihre Jungtiere ausgebrütet haben, verlassen sie das Bild von rechts nach links und kehren zum sicheren Ausgangspunkt ihrer Reise zurück. Auch ein Held, der sich in einem Western in Richtung Abenteuer verabschiedet, tut das von links nach rechts. Er lässt die kleine Farm links im Bild hinter sich zurück und macht sich ins ungewisse Abenteuer nach rechts auf. Am Ende eines Filmes kommt es auf den Verlauf der erzählten Geschichte an, in welcher Richtung die Protagonisten »abgehen«. Die »Heimkehrer« kommen fast immer von rechts nach links ins Bild, denn die Heimat wird mit der linken Bildhälfte assoziiert. Lediglich in Cliffhangern enden die letzten Szenen mit einer Bewegung oder einem Abgang nach rechts aus dem Bild heraus, denn dort geht es noch weiter … nur nicht mehr in diesem Teil des Filmes. Auch Superhelden verabschieden sich oft nach rechts aus einem Film, schon auf dem Weg in das nächste Abenteuer.

      Im Theater wird die Assoziation der Richtungen links und rechts mit der Zeitachse ebenfalls ausgenutzt. Dort tritt ein Schauspieler am Anfang eines Stückes gerne von links (vom Zuschauer aus gesehen) auf, denn dort befindet sich der gefühlte Ursprung, der Anfang. Je nach Aussage im Stück gehen die Schauspieler dann nach links oder rechts wieder ab: nach links zurück in der Zeit, zurück an einen sicheren Ort etc., nach rechts in die nächste Szene oder ins Unbekannte.

      In einem Foto kann es für die Bildaussage einen Unterschied machen, ob das Licht von der rechten oder linken Seite auf das Modell fällt. Besonders augenscheinlich wird dies bei Porträts, wenn das Modell zudem in die entsprechende Richtung schaut. Ist das Modell selbst auf der linken Seite positioniert, befindet es sich »in einem Schutzhafen der Heimat«, was »Gewissheit und Geborgenheit« vermittelt, und schaut nach rechts in eine Zukunft, die wir nicht sehen können – der Bildrand verhindert das. Spiegeln Sie zur Übung ein Bild mit einer deutlichen Richtungswirkung, vergleichen Sie es mit der ungespiegelten Variante und spüren Sie den unterschiedlichen Wirkungen nach, die diese Bilder bei Ihnen auslösen.

      Bei einem frontalen Porträt ist es für die Plastizität egal, auf welcher Seite das Licht steht. In beiden Fällen entstehen gleichermaßen Tiefenwirkung und plas-tische Modulation der Gesichtszüge. Dennoch ergeben sich unterschiedliche Bildwirkungen. Das Licht kommt einmal aus der »Vergangenheit«, das andere Mal aus der »Zukunft«.

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      Abbildung 1–7

      Die Positionierung eines Akzentes auf der rechten Bildseite und die Blickrichtung nach links interpretieren wir oft mit einem Blick in Richtung Vergangenheit.

      Mit der oberen Bildhälfte ist das Gute, das Leichte und Luftige, das Göttliche, das Transzendente, das Starke und Mächtige, aber auch das Ungreifbare und Unerreichbare verknüpft. Die Gestaltungslehre für den normalen Bildaufbau lehrt, dass ein eher oben im Bild platzierter Akzent, also ein Bildelement, das den Blick des Betrachters stark auf sich zieht, die entsprechende Wirkung beim Betrachter auslösen kann. Auch Licht aus dieser Richtung kann die Wirkung weiter unterstützen. Das Bild wirkt dann oft leicht, fröhlich und strahlend wie im linken Beispiel in Abbildung 1–8. Ein heller Bildhintergrund könnte die Wirkung in dieser Richtung weiter steigern, genau wie das gezeigte Gegenlicht, das ich noch ausführlich besprechen werde.

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      Die Richtung, aus der eine Lichtquelle eingesetzt wird, entscheidet über die emotionale Grundstimmung in einem Bild.

      Die untere Bildhälfte weckt eher Assoziationen mit dem Schweren, Erdigen, dem Negativen, Melancholischen, Depressiven oder dem Teuflischen. Aber nicht nur die Platzierung von Akzenten in diesen Bildbereichen erzeugt derartige Bildwirkungen. Licht von unten hat ebenfalls etwas Dämonisches, wie wir alle als Kind mit der Taschenlampe unter dem Kinn feststellen konnten und wie auch das mittlere Beispiel in Abbildung 1–8 zeigt. Der dunkle Bildhintergrund unterstützt diese Stimmung weiter.

       Exkurs

      In den Edgar-Wallace-Filmen wird gerne Klaus Kinski mit Unterlicht als Wahnsinniger dargestellt. Der Effekt ist sehr dramatisch bis theatralisch, wenn in einem ansonsten dunklen Wald Kinski plötzlich mit einem starken Unterlicht beleuchtet wird, dessen Ursprung aber ein Rätsel bleibt. Schauen Sie mal auf YouTube unter »Die Gruft mit dem Rätselschloss« oder scannen Sie den nebenstehenden QR-Code.

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      In »The Shining« verfällt Jack Nicholson als Jack Torrance langsam dem Wahnsinn. In den Szenen, wo er in der Bar mit einem Barmann spricht, der nur in seiner psychotischen Fantasie vorhanden ist, wird das Unterlicht eingesetzt, um diesen Wahn auch über die Lichtgestaltung zum Ausdruck zu bringen. Die Wirkung ist sehr subtil, da Stanley Kubrick für diesen Zweck die Bar selbst als Beleuchtungskörper umgebaut hat, die das Unterlicht durch ihre einfache Anwesenheit im Bild »erklärt«. Zudem wird die Szene durch die Flächenleuchten der Bar aufgehellt, wodurch die Schatten


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