Durchkreuzt. Andreas R. Batlogg
Vorwort
Am Anfang standen zwei kleine Texte, veröffentlicht in der Zeitschrift »Christ in der Gegenwart« (Freiburg), kurz vor Weihnachten 2017 (»Ich bin für dich da!«) und unmittelbar vor Ostern 2018 (»Wie neugeboren«). Sie stießen auf Resonanz. Von Freunden und Bekannten, aber auch von mir unbekannten Leserinnen und Lesern erhielt ich viele Zuschriften und E-Mails. Als ich den zweiten Text auch auf Facebook postete, löste das eine richtige Welle aus. Hatte ich den Ton getroffen?
Eine »Witterung« (Hugo Rahner SJ) nahmen auch Brunhilde Steger, Lektorin, und Gottfried Kompatscher, Leiter des Tyrolia-Verlags (Innsbruck-Wien), auf und ermutigten mich, meine Erfahrungen in Buchform darzulegen. Ich wendete damals ein: Aber ich stehe doch bestenfalls in der Mitte meiner Krankheit! Von Verlagsseite hieß es: »Sie müssen das Buch während der Behandlung schreiben, nicht aus dem Rückblick.« Ein Arzt sah das auch so. Schreiben sei wie eine Therapie.
Krankheitsgeschichten sind austauschbar. Wenn meine Art und Weise, über meine Erkrankung nachzudenken, Fragen aufzuwerfen, nach Hoffnungsworten zu suchen, anderen helfen kann, mit sich und ihrer Erkrankung besser zurechtzukommen, dann hat dieses Buch einen Sinn. Die Diagnose hat vieles durchkreuzt. Aber auch Neues ermöglicht.
München, 4. Oktober 2018 | Andreas R. Batlogg SJ |
1.
(K)Ein Tag wie jeder andere
München im September, ein wunderbarer Herbsttag. Das Datum prägte, ja brannte sich mir ein. Denn es veränderte alles, schlagartig, »out of the blue«, wie die Amerikaner sagen: 25. September 2017, Darmspiegelung bei einem Gastroenterologen. Drei oder vier Jahre vorher war ich nach einer Reise schon einmal bei einem Internisten gewesen. Ich kannte die Prozedur. Ohne große Vorahnung oder ernsthafte Befürchtungen ging ich in die Arztpraxis, die mir ein Freund empfohlen hatte: »Der Doktor ist Jesuitenschüler, du kannst ihm vertrauen!«
Schon wegen der Lokalanästhesie sind die meisten Patienten ein wenig aufgeregt. Aber man bekommt nicht viel mit, wacht wieder auf – und fährt nach Hause: per Taxi oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln, vorsichtshalber. Als ich wieder bei Bewusstsein war, fühlte ich mich nicht unwohl – und wartete auf das Arztgespräch. In der Hoffnung, für die in den letzten Monaten aufgetretenen Beschwerden eine plausible Auskunft zu erhalten.
Ich sehe den Doktor noch vor mir, es ist wie gestern: »Die Ursache für Ihre Probleme sind gefunden. Leider ist es ein bösartiger Tumor, ziemlich groß.« Mehr als ein »So!« brachte ich zunächst nicht heraus. Nach einer ersten Schrecksekunde dann: »Und was bedeutet das?« »Ich organisiere für Sie einen Termin im Klinikum Neuperlach, gleich morgen.« Ein kurzer Telefonanruf genügte. »Ihnen steht eine größere Operation bevor, vielleicht auch Chemotherapie.« So etwas sitzt! »Wie stehen meine Chancen?« »Darmkrebs ist sehr gut erforscht. Die Aussichten, dass Sie das alles überleben, stehen sehr gut. Es gibt hervorragende Ärzte auf diesem Gebiet.«
Krebs! Einmal ausgesprochen – auf mich zugesprochen, verändert das alles. Krebs: Wuchtig ist dieses kleine Wort, bedrohlich, dunkel. Das ist also die Zäsur in meiner Lebensgeschichte? Die erste Gefühlslage reichte von: »Das war’s!« bis »Kämpfen!« Ich dankte dem Arzt für seine Offenheit. Ein halbes Jahr später – wir sind inzwischen befreundet – fragte ich ihn bei einem Abendessen, wie er Patienten mit solchen Diagnosen konfrontiert. Er meinte: »Ich mache schon Unterschiede. Wenn ich den Eindruck habe, jemand verkraftet so etwas nicht, sage ich: Da gibt es noch einiges abzuklären. Bei dir hatte ich den Eindruck, ich kann gleich mit der Wahrheit herausrücken.«
Benommen verließ ich die Praxis. Mit wirren Gefühlen. Bevor ich ein Taxi bestieg, betrachtete ich die Bäume an der belebten vierspurigen Straße, die bunten Blätter, die Herbstsonne. Als wäre es das erste Mal! Wie lange noch?, durchzuckte es mich.
Dann versuchte ich, mich zu sortieren: Wen soll ich jetzt anrufen? Meine Eltern? Mein Vater hatte einige Monate vorher einen Gehirnschlag erlitten. Das wäre jetzt keine gute Idee, die regen sich daheim nur auf. Und Näheres wusste ich ja noch nicht. Der mir am nächsten stehende Mitbruder in St. Michael, meiner Kommunität, war nicht erreichbar. So war es ein Jesuit in Frankfurt, der mich seit einigen Monaten beim Verfassen eines Buches über Papst Franziskus beriet. »Andreas, ich bete für dich!« Was mir Michael sonst noch sagte, weiß ich gar nicht mehr. Aber die Versicherung, für mich zu beten, war in diesem Moment ein Trost. Gleichzeitig hatten seine Worte etwas Schweres und Ernstes an sich. Ausweichen lässt sich einer solchen Diagnose nicht. Verdrängen, ignorieren geht auch nicht. Auf einen selber wirkt sie so brutal wie auf andere, die davon erfuhren oder denen ich davon erzählte, besonders auf Nahestehende.
Zurück in meiner Kommunität, setzte ich mich zuerst im Garten von St. Michael nieder: der erste Innenhof mit Renaissance-Fassade in Deutschland, 1583 bis 1597 mit der Michaelskirche gebaut. Späte Nachmittagssonne. Es war mittlerweile 17 Uhr. Es rumorte in mir. Bald würden mich die Mitbrüder fragen: Alles in Ordnung? Nichts mehr war in Ordnung. Würde denn jemals wieder alles so sein können wie zuvor?
Abends bat ich meine Oberen – den Pater Superior, den Pater Minister – und den mir am nächsten stehenden Mitbruder zu einem Gespräch: »Ich habe Krebs.« Und schon konnte ich nicht mehr weitersprechen. Die Stimme brach mir. Wir vereinbarten, dass ich erst die nachfolgenden Untersuchungen abwarten solle, bevor wir die anderen Kommunitätsmitglieder informieren und dann die Ordenszentrale verständigen würden. Wir tranken noch einen Schnaps. Alles war plötzlich irgendwie anders. Ins Bett ging ich mit bangen Fragen.
2.
»Sagen Sie alle Termine für ein Jahr ab!«
Tags darauf fuhr ich nach Neuperlach, wo es ein modernes städtisches Klinikum gibt. Der Navigator zeigte die Entfernung an: dreizehn Kilometer. Je näher ich dem Spital kam, desto mulmiger wurde mir. Vielleicht war alles ein Irrtum? Würde sich die Diagnose als falsch herausstellen? Eine verwegene Hoffnung, ein blöder Gedanke! Aber es meldet sich viel, um die Wirklichkeit nicht in ihrer ganzen Breite wahrnehmen zu müssen. Man möchte die Uhr zurückdrehen und die letzten vierundzwanzig Stunden ungeschehen machen!
Nach der Anmeldung musste ich warten. Dann saß ich dem Chefarzt gegenüber. Nach einem kurzen Gespräch – ich spürte, dass er Bescheid wusste – untersuchte er mich und bestätigte schon bald die Diagnose seines Kollegen in Neuhausen.
»Was machen Sie beruflich?« »Ich bin Chefredakteur einer Monatszeitschrift, werde aber mit Jahresende nach siebzehn Jahren aufhören und eine Sabbatzeit antreten.« Dann der nächste Hammersatz, wuchtiger noch als die Diagnose vom Vortag: »Sagen Sie alle Termine für ein Jahr ab! Sie werden sich darauf einstellen müssen, dass die Behandlung mehrere Monate dauert. Und danach kommt eine Reha.« Meine naive Vorstellung, dass da etwas aus mir herausoperiert würde und dann alles wie gewohnt weitergeht, wurde daraufhin schlagartig zerstört: »Nach der Operation werden Sie einen künstlichen Darmausgang gelegt bekommen. Da der Tumor günstig liegt, bestehen gute Aussichten, dass er nach einigen Monaten rückverlegt werden kann und Sie den Anus praeter nicht für den Rest Ihres Lebens benötigen. Tausende Menschen müssen lebenslang damit leben.«
Mein Flug nach Tel Aviv war bereits gebucht. Vom 19. Dezember an sollte ich bis Ende Februar in Jerusalem im Päpstlichen Bibelinstitut unweit des King David Hotels den ersten Teil meines Sabbaticals verbringen. (Tags darauf stornierte ich den Flug.) Was der nächste Schritt sei, fragte ich. Nach der Koloskopie sollte eine Computertomografie Aufschluss geben über Details, die abzuklären waren. »Ich fliege in drei Tagen für eine Woche nach Rom. Kann ich das noch machen oder soll ich die Reise absagen?« »Fliegen Sie, aber vereinbaren Sie vorher den Termin für die Untersuchungen. Wir müssen abchecken, ob der Tumor schon gestreut hat.« Das Wort Metastasen fiel nicht. Aber es war unsichtbar da und schwebte wie ein Damoklesschwert über mir.
Als ich das Klinikum verließ und aufs Auto zusteuerte, durchzuckte es mich: Und hier werde ich monatelang zubringen müssen! Plötzlich wirkte der riesige Komplex auf mich wie eine Krake,