Durchkreuzt. Andreas R. Batlogg
Durch Abtasten versicherte ich mich gelegentlich, dass der Port noch da war, ein Fremdkörper zunächst, aber ein gern gesehener »Gast«, der eben die Behandlung enorm erleichtert und mich davor bewahrte, ständig »angestochen« werden zu müssen.
6Bei Matthäus und Markus spielt sich die Szene in Betanien im Haus Simons des Aussätzigen ab: Eine namenlose Frau, die ein Alabastergefäß mit wohlriechendem (Narden-)Öl verwendet, ruft den Protest der Jünger hervor, die darin eine Verschwendung sehen (vgl. Mt 26,6–13; Mk 14,3–9). Bei Lukas spielt die Handlung im Haus eines Pharisäers, der später mit dem Namen Simon genannt wird. Die anonyme Frau wird als »Sünderin« eingeführt, sie salbt und küsst die Füße Jesu – der Pharisäer stößt sich an diesem Umgang und fragt, ob ein richtiger Prophet nicht merken müsste, von wem er sich da – das eigentliche Tabu – berühren lässt (vgl. Lk 7,36–50).
6.
Kämpfen oder aufgeben?
Die Scans von MRT und CT hatten die Diagnose des Gastroenterologen bestätigt und präzisere Details über den Tumor und sein Umfeld ergeben. Das Positive daran war: Metastasen wurden keine nachgewiesen. Das war beruhigend. Und mehr oder weniger die erste erfreuliche Nachricht seit dem 25. September.
Darüber hatte ich lange nachgedacht und mich auch mit einigen Mitbrüdern besprochen: Sollte ich Metastasen haben, sollte der Tumor gestreut haben und andere Organe befallen sein, würde ich mich intensiv beraten lassen, ob eine Operation und eine monatelange Behandlung überhaupt sinnvoll sind. Deutlich wurde dabei, dass eine hundertprozentige Prognose über den Krankheitsverlauf nahezu unmöglich ist. Welcher Arzt kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass eine Therapie aussichtslos ist? Dass ein Patient noch sieben Monate zu leben hat oder nur mehr drei Wochen? Es ist alles relativ, so meine Erkenntnis.
Die Alternative lautete nie: Kämpfen oder aufgeben? Klar war aber, dass ich eine Behandlung mit geringen Aussichten auf Erfolg ablehnen würde. In dem Fall würde ich mich nach einem Hospiz umschauen und mich, wenn es soweit ist, nur mehr palliativ behandeln lassen. Meinen Eltern wollte ich davon vorerst nichts sagen. Ich hörte schon einen Standardsatz meines Vaters, der mich noch nie überzeugt hatte: »Ein Batlogg gibt nicht auf!«
Zum ersten Mal in meinem Leben wurde das eine reale Überlegung: Wofür würde ich dann die mir noch verbleibende Lebenszeit nutzen? Mit wem noch einmal sprechen? Wen vielleicht zum letzten Mal besuchen? Mit wem Versöhnung angehen? Die Begrenztheit meiner Lebenszeit wurde plötzlich sehr real: Alles Planen, alles Fantasieren, sämtliche Vorsätze entpuppen sich schlagartig als sehr bedingt. Der Gedanke, dass ich möglicherweise nur mehr wenige Monate zu leben hatte, beschäftigte mich einige Tage, bevor das Ergebnis von MRT und CT auf dem Tisch lag. Ich schob ihn nicht weg. Merkte aber, dass ich diese Zeit nutzen will – für mich, um einiges zu ordnen, um manches vielleicht ins Lot zu bringen.
Ich erinnerte mich an meinen Mitbruder Albert Keller SJ (1932–2010), Philosophieprofessor und bereits in jungen Jahren akademischer Rektor unserer ordenseigenen Hochschule in München. Für einige Jahre war ich sein Zimmernachbar im Berchmanskolleg in der Kaulbachstraße gewesen. Auf dem Gang sind wir uns mehr oder weniger täglich begegnet, ein Wort ergab dabei das andere. Für den einen oder anderen Handgriff war er stets dankbar.
Von seiner schweren Krankheit unübersehbar gezeichnet, fragte ich ihn immer wieder, wie es ihm gehe. Manchmal entstand dabei ein längeres Gespräch. Ob ihn seine Krankheit verändere und ob er darüber schreiben wolle, fragte ich ihn einmal bei Gelegenheit. (Ein Redakteur ist immer auf Autorenfang!) Zwei Tage später von einem Vortrag in Köln zurückgekehrt, fand ich in meinem Postfach einen Text vor: »Wir Behinderten«. Daraus entstand das letzte Editorial des jahrzehntelangen Autors in den »Stimmen der Zeit«, erschienen im April 2010, etwas mehr als drei Monate vor seinem Tod. Es beginnt so direkt, wie es typisch war für den beliebten Professor ohne jeden Standesdünkel (der übrigens auch Kurat der Gebirgsschützenkompagnie Tegernsee war): »Wer (…) als fast Achtzigjähriger mit einer Krebserkrankung zu kämpfen hat, sich wegen inoperabler Metastasen einer Chemotherapie unterziehen, dazu Tag für Tag Medikamenten-Cocktails schlucken muss und nur intravenös ernährt werden kann, kennt einen Zustand als Insider, den die Mehrheit der Deutschen nur als die für sie wichtigste Bedrohung fürchtet.«7 Unverkennbar geht es in dem Text um die Angst des deutschen Bundesbürgers, im Alter zum Pflegefall zu werden.
Eine dabei beschriebene Angst kam mir jetzt, in meiner neuen Situation, unwillkürlich in den Sinn, auch wenn ich genau dreißig Jahre jünger war als Albert: »Man ängstigt sich, seine Würde zu verlieren, wenn man sich dem Status eines Kleinkindes nähert, in dem man hilflos der Fürsorge anderer ausgeliefert ist und jeden Eingriff in die eigene Intimsphäre über sich ergehen lassen muss, wogegen sich – im Unterschied zum Kleinkind – unser Schamgefühl als Erwachsene sträubt (etwa wenn die Kontrolle über die Körperausscheidungen verlorengeht).«8
Dass ich keine Demenz zu befürchten hatte, half in diesem Augenblick wenig. Aber dass ich völlig auf fremde Hilfe angewiesen, dass ich in der Klinik den Blicken und den Handgriffen anderer ausgesetzt sein würde – das schwante mir. Es graute mir davor! Und die Klammerbemerkung über verlorengehende Kontrolle war ja in meinem Fall fast so etwas wie eine »self-fulfilling prophecy«. Man macht wahrlich keine Luftsprünge, wenn man den verschiedenen Behinderungen und Einschränkungen entgegenblickt, die unweigerlich auf einen warten und so sicher kommen wie das Amen in der Kirche.
Vom Rektor erhielt Albert Keller während einer Kommunitätsmesse die Krankensalbung, bevor er – seit Herbst 1971, also fast vierzig Jahre lang im Berchmanskolleg lebend – in die Palliativstation St. Johannes von Gott am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in München-Nymphenburg gebracht wurde. Wer es wissen wollte wusste, dass es keine Rückkehr geben würde. Ich habe mich damals gewundert – und geärgert –, dass manche Mitbrüder sich auf eine Art und Weise verabschiedeten, als komme er in einer Woche wieder zurück.
Vier Tage vor seinem Tod am 5. Juli 2010 besuchte ich Albert in der Palliativstation. Einige Wochen zuvor hatte er mir ein ihm wichtiges Manuskript überlassen und mich gebeten, dafür einen Verlag zu finden. Kaum hatte ich sein Zimmer betreten, erkundigte er sich, ob daraus etwas werde. Ich bejahte, er lächelte, und dann fügte ich hinzu: »Du wirst es wohl nicht mehr erleben, aber ich kümmere mich um die Veröffentlichung.« Das ist auch gelungen, und das Buch erhielt sogar eine zweite Auflage9. Seine letzte Tat, um Mitbrüder (je nach Lesart) zu irritieren oder zu ärgern, war eine von ihm selbst vorab aufgesetzte Todesanzeige, die eine Freundin von ihm in der »Süddeutschen Zeitung« aufgab. »Typisch Keller«, meinten manche Mitbrüder. Seine große Gottesdienstgemeinde in St. Michael, wo er jahrzehntelang als wortgewaltiger Prediger (auf der Kanzel) geschätzt war, wunderte sich weniger über diesen »Abgang«. Wer sich damals ärgerte, dem entging, dass es sich dabei nicht nur um hintergründigen Humor handelte, sondern auch um eine Art »Crash-« oder Schnellkurs in Sachen Eschatologie. Albert Keller beherrschte die Kunst, komplizierte theologische Sachverhalte auf den Punkt zu bringen: »Bis dann. Auf geht’s.« Knapper konnte man es kaum auf den Begriff bringen: das Bekenntnis eines Christenmenschen10!
So viel Humor – und felsenfesten Glauben – konnte ich in den ersten Wochen meiner Erkrankung nicht aufbringen. Aber mit der Zeit wuchs die Zuversicht auf ein gutes Ende – so oder so.
7Albert Keller, Wir Behinderten, in: Stimmen der Zeit 228 (2010), 217–218, 217.
8Ebd.
9Vgl. Albert Keller, Grundkurs des christlichen Glaubens. Alte Lehren neu betrachtet. Hrsg. v. Andreas R. Batlogg u. Nikolaus Klein. Freiburg 2011 (22012).
10Abdruck des Faksimile bei: Andreas R. Batlogg