Durchkreuzt. Andreas R. Batlogg

Durchkreuzt - Andreas R. Batlogg


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      Sofort meldeten sich Fragen: Wie ist das mit der für Ende Oktober geplanten Übergabe an meinen Nachfolger? Wie sollte ich nach der Woche in Rom einen neuen Redakteur einarbeiten? Fragen über Fragen. Sie kamen, überfallsartig – wie bei einem, der auf einem sinkenden Schiff versucht zu retten, was zu retten ist, und dabei ganz unsinnige Aktionen startet.

      Dass ich nicht mehr oder nur mehr eingeschränkt würde arbeiten können, das realisierte ich in diesen ersten Tagen nach der Diagnose nicht. Es ist viel, was schlagartig auf einen einpurzelt. Im Rückblick kann ich mich an manches nur mehr dunkel erinnern, was mir in diesen ersten Tagen durch den Kopf schoss. Die innere Erschütterung, dass ich jetzt selber in einer Lage bin, die ich bisher nur als Priester oder als Angehöriger erlebte, macht sprachlos und lässt manchmal verstummen. Szenarien wandern im Kopf auf und ab, Bilder kommen hoch – und je mehr Menschen davon erfuhren, desto deutlicher wurde mir bewusst, dass »der Helfer« jetzt selber Hilfe braucht, weil er von Tag zu Tag hilfloser werden wird. Es ist, als säße man in einem Zug, der auf einen Abgrund zufährt. Man weiß, dass nicht gebremst wird – und bleibt trotzdem wie gelähmt sitzen.

      3.

       »Ich bin für dich da!«

      Auf dem Rückweg nach St. Michael stoppte ich nach einiger Zeit am Straßenrand. Ich rief einen Freund an, der im Beirat der »Stimmen der Zeit« saß, den ich vor einigen Jahren installiert hatte. Fuat ist Onkologe und Hämatologe, er lehrt als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Nach dem medizinischen Doktor hat er an unserer Jesuitenhochschule auch in Philosophie promoviert. Ich erreichte ihn gleich. »Kann ich mit dir sprechen oder bist du bei Patienten?« »Was ist los, Abuna?« Die respektvolle Anrede Abuna (arabisch / aramäisch für »Vater« oder »Pater«) verwendet er gern. »Fuat, ich habe Krebs, ich komme gerade aus Neuperlach, ich soll sehr bald operiert werden. Ich bin kommende Woche noch in Rom, dann geht es los mit den Untersuchungen.« Erneut brach mir die Stimme.

      Dann hörte ich die wunderbaren Worte: »Abuna, seit der Taufe meines Sohnes bist du mein Bruder. Jetzt bin ich für dich da! Ich rufe dich heute Abend an.« Da sind mir zum ersten Mal die Tränen runtergelaufen, wie einem Kind. Ein richtiger Sturzbach! Ich spürte: Es steht ernst um mich. Aber da ist jemand, der mich nicht allein lässt.

      Der Rückruf kam kurz nach 21 Uhr, ich saß mit einem Mitbruder zusammen. Fuat bot an, sofort zu kommen. Er wohnt in Pasing, ich in der Innenstadt. Ich wehrte ab: »Jetzt kannst du doch nichts machen.« Und dann noch einmal: »Ich bin für dich da! Du kannst dich auf mich verlassen! Mach in Neuperlach die Untersuchungen, dann ziehen wir deinen Fall an die Uni-Klinik: Ich übernehme die Behandlung und arrangiere alles, zuerst Strahlen- und Chemotherapie, dann erst eine OP. Du wirst sehen: Es wird alles gut!«

      Tröstete das? Ich ging jedenfalls beruhigter schlafen als am Vortag. Aber wieder mit Tausenden Gedanken im Kopf. Die Diagnose, die ersten Gespräche, die Frage, wie der Abschied bei der Zeitschrift sein würde, die Frage, wen ich jetzt (und wie) verständigen sollte – all das klopfte an. Lawinenartig. Meinen Eltern wollte ich erst nach der Romreise und nach der Computertomografie etwas sagen. Ich ging eine Reihe von Freunden und Verwandten in meinem Kopf durch und überlegte, was ich wem wann sagen sollte. Noch wusste ich ja noch nicht, wie meine Überlebenschancen stehen. Unnötig beunruhigen wollte ich niemanden. Aber eine offensive Informationspolitik schien mir geboten. Keine Geheimniskrämerei. Denn ich würde ja auf Monate hinaus – publizistisch gesehen – nicht in Erscheinung treten können.

       Ich bin für dich da!

      Weihnachten hat für mich in diesem Jahr im Herbst begonnen. Der 25. September schreibt sich ein in meine Lebensgeschichte. Nach einer Darmspiegelung eröffnete mir der Arzt an diesem sonnigen Münchener Herbsttag: »Die Ursache für die Probleme ist gefunden. Leider ist es ein bösartiger Tumor.« Ein Satz, der das Leben verändert. Auf dem Weg zum Taxistand am Rotkreuzplatz fragte ich mich: Wen soll ich anrufen? Meine Eltern? Einen Mitbruder? Es war dann ein Jesuit in Frankfurt/Main.

      Am nächsten Tag im Klinikum Neuperlach der nächste Schock: »Sagen Sie alle Termine für ein Jahr ab.« Aus meinem Sabbatjahr nach dem Ausstieg bei den »Stimmen der Zeit« wird also nichts! Zwei Monate in Jerusalem – nicht mehr möglich, USA – abgesagt.

      Auf dem Rückweg in meine Kommunität telefonierte ich mit einem Freund. Er ist Onkologe und Hämatologe in der Uniklinik. Und hörte den wunderbaren Satz: »Jetzt bin ich für dich da!« Einige Monate vorher hatte ich seinen heiß ersehnten Sohn getauft – jetzt, so der Arzt, sei er dran. Ich sei jetzt sein Bruder. Da sind mir zum ersten Mal die Tränen runtergelaufen.

      »Ich bin für dich da.« Das ist nicht nur ein Satz, der über die ersten dunklen Gedanken hinweghilft, in schwierigen Zeiten. Es ist auch ein weihnachtlicher Satz. Inkarnation, Menschwerdung Gottes bedeutet eigentlich nichts anderes: Gott ließ und lässt sich ein. Er kommt nicht, um wieder zu gehen, wie die antiken Götter. Er bleibt. Er hat sich dieser Welt zugesagt – mit ihrer Schönheit, mit ihren Abgründen und Widersprüchlichkeiten. Und er wird auch mit mir sein in den nächsten Wochen und Monaten. Darauf vertraue ich.

      Gott kümmert sich. Seitdem unter der Empore der Jesuitenkirche Sankt Michael in München wieder das Jesuskind mit der Weltkugel angeleuchtet wird, darunter das IHS-Monogramm, richte ich mich am Altar bewusst darauf aus: IHS – Iesum Habemus Socium, »Wir haben Jesus zum Gefährten«! Das ist nicht nur eine abstrakte Aussage über die Spiritualität eines Jesuiten. Das ist auch die Weihnachtsbotschaft, im Telegrammstil sozusagen. Ein Leitwort, das tröstet, das hält, das aufbaut.

      Gott ist für uns da. Das Kind in der Krippe, so machtlos, klein, schutzlos, so religiös verkitscht es daliegt, garantiert dafür. Jahr für Jahr können wir uns das vor Augen halten, feiern. Das ist doch das Größte: Wir sind nicht allein (gelassen). Gott ist mit uns. Immanuel!

      Der Text fasste die Empfindungen der ersten Tage und Wochen nach der Diagnose zusammen. Wenn ich ihn heute lese, wundere ich mich selbst, dass ich so direkt sein konnte. Aber offenbar wollte ich die ersten Eindrücke, Sorgen und Ängste irgendwie verarbeiten.

      Und diese wunderbaren Worte »Ich bin für dich da!«, dem Theologen und Priester zugesprochen von einem »Laien«, wurden für mich durch all die Monate hindurch, die da kommen sollten, zu einem Trost-, ja zu einem Signalwort. Es stand immer wie ein stummer Imperativ da, in jeder Phase meiner Behandlung: »Ich bin für dich da!« Fuat, mein Arzt und Lebensretter, hatte mir diese Worte gesagt, und er meinte es immer ernst: Du kannst jederzeit mit mir rechnen!

      Damit hatte er sich auch als Seelsorger erwiesen, weil er mich an die Botschaft von Weihnachten erinnerte, er, der syrisch-orthodoxe Christ: Gott ist für uns da in dem Kind, das wir an Weihnachten in der Krippe anbeten. Gott kümmert sich. Er kommt, um zu bleiben. Dass ich in diesem Freund sozusagen die leibhaftige, die greifbare Umsetzung dieses Wortes erlebte, das hat mir in diesen Monaten immer geholfen – und im Übrigen mein Vertrauen auf Gott gestärkt. Immanuel – Gott mit uns: Das tröstet, das stärkt, das hilft.

      1Andreas R. Batlogg, Ich bin für dich da!, in: Christ in der Gegenwart 69 (2017), 568.

      4.

       Rom – das letzte Mal?

      Den Flug nach Rom trat ich an. Auf das Treffen mit Kardinal Walter Kasper, den ich einige Wochen vorher in seinem Elternhaus im Allgäu getroffen hatte, wollte ich wegen des Papstbuches nicht verzichten. Auch mit Annette Schavan, der Botschafterin Deutschlands beim Heiligen Stuhl, hatte ich mich verabredet und war am 3. Oktober zum Empfang aus Anlass des Tags der deutschen Einheit eingeladen. Abgesehen von österreichischen und deutschen Mitbrüdern


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