Durchkreuzt. Andreas R. Batlogg
Anm. 19.
7.
Die Behandlung beginnt
Am 16. Oktober begann meine Behandlung. Ich war in die Ambulanz der Medizinischen Klinik am Sendlinger Tor einbestellt, durch einen kleinen Park getrennt von der (evangelischen) Matthäuskirche. Natürlich war ich nervös, sogar ein wenig aufgekratzt. Dass ich einen Professor »im Hintergrund« hatte, den ich persönlich kannte und der sich für mich einsetzte, war immer eine gewisse Sicherheit in dem großen Apparat. Da ich mich zuvor an einer Zentralstelle hatte anmelden müssen, war ich jetzt Teil des »Systems«. Die Frage, wie und wo ich versichert sei, habe ich seither unzählige Male gehört.
Wie eine Chemotherapie vor sich geht, wusste ich bis dahin nicht. Einige Patienten lagen auf Liegen und bekamen Infusionen. Dass ich heute auftauchen würde, war bekannt. Eine Schwester erwartete mich. Für mich stand eine Plastikflasche bereit, in der die Ration für eine Woche genau abgestimmt war. Mittels Baxter-Pumpe, die ich in einer Hüfttasche verstauen konnte, wurde mir diese in den Körper injiziert. Die Technik ist patientenfreundlich: Ein leerer Elsaomer-Ballon wird im Innern des Infusors mit der Infusionslösung 5-FU (Fluorouracil), die auf Gewicht und Körpergröße abgestimmt ist, befüllt. 5-FU ist ein Arzneimittel, welches als Zytostatikum in der Chemotherapie, hauptsächlich beim kolorektalen Karzinom und bei Brustkrebs angewendet wird. Durch die Dehnung des elastischen Materials wird Druck auf die Flüssigkeit ausgeübt. Der Druck presst das Arzneimittel aus dem Reservoir durch den Schlauch. Ungewohnt ist am Anfang nur, dass man diese Flasche am Körper trägt. Nachts muss man eine Technik suchen, um nicht auf der Flasche oder auf dem Schlauch zu liegen zu kommen. Beim Duschen ist mir die Flasche manchmal heruntergefallen, was einen kräftigen Zug auf den Schlauch am Port ausübte. Aber es ist nie etwas Ernstes passiert. Eine Woche lang dauerte diese erste Chemo-Staffel.
Parallel dazu begann am 17. Oktober die Strahlentherapie. Täglich außer Samstag und Sonntag, sechs Wochen hindurch, bis 24. November. Ungewohnt war für mich, vormittags von St. Michael durch die Innenstadt in die Klinik zu spazieren, wo ich zu einem festen Termin, bis auf wenige Ausnahmen um 10 Uhr, bestrahlt wurde. Dafür wurde ich mit blauer Farbe im Bauch- und Beckenbereich markiert, um punktgenau bestrahlt werden zu können. Die Prozedur dauert fünf bis sieben Minuten. Man merkt eigentlich nichts, es ist einfach immer derselbe Ablauf: ankommen, kurz warten, entkleiden, auf den Tisch legen, man wird justiert, die Helfer verlassen den Raum, die Bestrahlung beginnt. Einmal pro Woche gab es ein Arztgespräch wegen der Nebenwirkungen. Natürlich wird so präzise wie möglich bestrahlt, aber in derselben »Gegend« befinden sich Harnblase und Prostata. Von Anfang an musste ich daher Pampers tragen. Die Inkontinenz ließ auch nicht lange auf sich warten. Windeln in der Apotheke besorgen zu müssen, war zuerst gar nicht so leicht. »Die sind für mich«, flüsterte ich und war erleichtert, dass die beiden Packungen diskret in einer Plastiktasche verstaut wurden.
In der Tat kam die ganze Verdauung schnell durcheinander. Kollateralschaden der Bestrahlung! Einmal erhielt ich einen Anruf aus Wien, von einem Freund aus der Provinzleitung: »Wie geht es dir, was machst du gerade?« Ich: »Ich stehe gerade vor dem Kaufhof am Marienplatz und wollte Blumen besorgen. Aber es ging gerade los: Da kann ich nur mehr die Beine grätschen und alles in die Windeln fallen lassen.« Nur mit Klaus redete ich so offen. Er war über zehn Jahre in der Hospizarbeit der Wiener Caritas tätig und kannte solche Situationen. Bei einem anderen Anruf sagte ich: »Ich liege auf dem Bett, ich bin sehr müde, und ich beobachte, wie die Herbstsonne in unsere Platane leuchtet, ich schaue die bunten Blätter an.« Und Klaus darauf: »Tu alles, was dir guttut, genieße den Augenblick.«
Dass ich wochenlang nur sehr eingeschränkt arbeiten, also an meinem Papstbuch schreiben konnte, sei nur nebenbei erwähnt. Ich war, vor allem nachmittags, überaus müde und döste auf dem Bett dahin. Dazu kam das Wechseln der Pampers.
Wenn ich in die Strahlenklinik kam, sah ich andere Patienten: viele ältere, meistens älter als ich; aber auch Kinder, oft im Rollstuhl. Viele trugen Kopftücher oder Basecaps. Mir fielen die Haare nie aus – manchmal jedoch wünschte ich mir das heimlich, weil ich sehr oft zu hören bekam: »Man sieht dir gar nichts an. Du schaust ganz gesund aus.« Der Schein trog.
8.
»Was ich Ihnen jetzt sage, fällt mir schwer«
Mit dem Kirchenrektor von St. Michael hatte ich vereinbart, dass er am Ende eines Hochamtes am Sonntag die Gemeinde informieren würde. Dass ich mit Jahresende bei meiner Zeitschrift aufhören und eine Sabbatzeit antreten sollte, hatte sich schon herumgesprochen. Nun hatte ich fast drei Monate früher aussteigen müssen. Wir wussten am Anfang auch nicht, welche Nebenwirkungen sich einstellen würden. Ob ich weiter zelebrieren und predigen könnte. Wegen der Chemotherapie sollte ich größere Menschenansammlungen vermeiden, da mein Immunsystem geschwächt war. Wir beschlossen: Solange es irgendwie geht, konzelebriere ich, aber ich stehe keiner Messe mehr vor und stelle das Predigen ein. Ich verstecke mich aber nicht.
Wir wählten also eine Sonntagsmesse, bei der ich (noch) den Vorsitz hatte. Karl predigte. Vor dem Schlusssegen nahm er nach einigen Vermeldungen tief Luft und begann: »Was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, fällt mir nicht leicht. Sie alle kennen Pater Batlogg und wissen, wie gern er hier Gottesdienst feiert und predigt. Das wird in den nächsten Monaten nicht möglich sein. Vor zwei Wochen hat er die Diagnose Krebs erhalten. Es ist ein bösartiger Tumor im Enddarm, die Behandlung – Chemotherapie und Bestrahlung – hat bereits begonnen. In einigen Wochen folgt eine größere Operation.« Es war mucksmäuschenstill. Mein komisches Gefühl dabei: Da ist von mir die Rede! Würde mir beim Segnen die Stimme brechen? Karl hat sehr diskret informiert. Hinterher erfuhren wir, dass jemand statt »Enddarm« (um das Wort Mastdarm zu vermeiden) »Endstadium« verstanden hatte. In die Stille hinein sagte ich: »Danke, Karl«. Und an die Gemeinde gerichtet: »Mein Sabbatical habe ich mir anders vorgestellt, den Flug nach Tel Aviv habe ich bereits storniert. Medizinisch bin ich in sehr guten Händen. Aber natürlich habe ich auch viel Angst. Ich danke Ihnen allen für Ihr Anteilnehmen und Ihr Gebet.« Dann spendete ich den Segen. Die Stimme brach dabei nicht ab. Nach der Messe machte ich mich auch nicht aus dem Staub, sondern ging in den Hochchor zurück. Viele Besucher kamen und drückten ihr Mitgefühl und ihre Bestürzung aus. Das tat gut. Und mit dieser Mitteilung war die Katze endlich aus dem Sack.
In den nächsten Wochen erhielt ich sehr viel Post: Genesungswünsche, Zeichen der Betroffenheit und der Anteilnahme, die Versicherung, für mich zu beten, Messen lesen zu lassen, Kerzen anzuzünden. Oft von ganz unerwarteter Seite. Viele Ratschläge zur Behandlung und zur Medikation trafen ein. Hatte ich früher jede Woche selbst für Blumen gesorgt, kamen sie jetzt automatisch, sehr regelmäßig, manchmal konnte ich einen zweiten oder dritten Strauß an die Kommunität abtreten.
Hin und wieder erinnerte ich mich jedoch auch an das Bonmot: Besser als warme Ratschläge sind kalte Umschläge. Wie wahr ist diese Feststellung des Jesuiten und Facharztes für Psychiatrie, Eckhard Frick, der als Psychoanalytiker in eigener Praxis arbeitet und an unserer Hochschule für Philosophie unterrichtet! Sie findet meine volle Zustimmung: »Gleichwohl: Auch Ratschläge sind Schläge! Äußerungen wie ›Das wird schon wieder!‹, ›Du musst jetzt stark sein!‹, ›Wir schaffen das!‹, vor allem aber der Terrorismus des ›positiven Denkens‹ zeugen von der eigenen Hilflosigkeit angesichts des Leidens anderer.«11
Es ist der berühmte, aber eben der entscheidende Unterschied zwischen gut und gut gemeint: Anstatt irgendwas zu sagen oder besonders viel, pausenlos zu reden bzw. auf mich einzureden, hätte ich mir manchmal gewünscht, besonders wenn ich in der Klinik lag, dass Besucher besser nichts sagen und einfach eine Weile still bei mir am Bett sitzen. Eine Kirchenbesucherin kam einmal am Sonntagvormittag und fragte, ob sie mich nachmittags zwischen 15 und 16 Uhr besuchen dürfe. Als ich nachfragte, warum gerade um diese Uhrzeit, meinte sie: »Das ist die Stunde der Barmherzigkeit. Wenn wir da gemeinsam nach der Meinung der Schwester Faustyna den Rosenkranz beten, werden Sie sicher geheilt.« Gemeint war die polnische Ordensfrau Faustyna (Helene) Kowalska (1905–1938), die von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2000 heiliggesprochen worden ist. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich die Decke hochgegangen. Ich schluckte meine Verwunderung, besser: meine Verärgerung