Durchkreuzt. Andreas R. Batlogg

Durchkreuzt - Andreas R. Batlogg


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Treppe, zehn Minuten Fußweg zur Gregoriana, der Päpstlichen Jesuitenuniversität.

      Freundlich wurde ich empfangen, wie immer. Die ersten drei Tage verließ ich die Kommunität nur kurz, um mir die Füße zu vertreten. Im 16. Jahrhundert als kleines Landhaus der Familie Orsini auf dem Gebiet der antiken Horti Lucullani erbaut, immer wieder erweitert, 1827 vom bayerischen König Ludwig I. erworben, fünfzig Jahre später im Stil des romantischen Historismus umgebaut, haben die Jesuiten die Villa Malta nach dem Zweiten Weltkrieg gekauft und zum Redaktionssitz gemacht.

      Kurze Streifzüge über die Piazza di Spagna mussten vorerst genügen. Ich genoss die Herbstsonne. Aber immer begleitet von der Hintergrundfrage: Wie lange noch? Bin ich zum letzten Mal in Rom? Solche Fragen kommen hoch, automatisch. Man wird sie nicht los.

      Seit Donnerstag war ich hier. Am Samstag kam Astrid aus Venedig angereist, um sich von mir fünf Tage durch die Stadt führen zu lassen. Die Studienleiterin an der Katholischen Akademie in Bayern war Mitarbeiterin der »Stimmen der Zeit« auf Honorarbasis. Als ich auf die Stazione Termini zusteuerte, überlegte ich, wann und wie ich ihr von meiner Untersuchung und dem Ergebnis berichten sollte: Warten bis zum Ende? Oder gleich damit herausrücken? Ich wusste, dass sie voller Erwartung auf die Ewige Stadt war und die verschiedenen Begegnungen, die wir anvisiert hatten. Weil ich noch etwas grübelte, bemerkte ich nicht, dass ihr Zug bereits eingetroffen war. Plötzlich stand sie vor mir. Ich bot an, zuerst an der Piazza della Repubblica einen Espresso zu trinken.

      Und das taten wir dann auch: schöne Spaziergänge und ein Streifzug durch den Park der Villa Borghese, Besuche bei Jesuiten. Die Dachterrassen der verschiedenen Jesuitenhäuser faszinierten sie sehr. Von der Gregoriana wie auch von der Villa Malta aus hat man den Komplex des Quirinalpalastes zum Greifen nahe. Auch das monströse Nationaldenkmal für Vittorio Emmanuele II., im Volksmund auch abschätzig macchina da scrivere (Schreibmaschine) oder wegen seines weißen Marmors torta nuziale (Hochzeitstorte) genannt, liegt einem zu Füßen.

      Mein 55. Geburtstag tags darauf fing ganz speziell an: Um 8 Uhr morgens, als ich mir einen zweiten Espresso holen wollte, stand Astrid vor meiner Zimmertür. »Wie bist du denn ins Haus reingekommen?« »Weiblicher Charme! An der Rezeption saß eine Dame – die sah gleich: Es ist wichtig!« Eine Torte mit brennenden Kerzen hielt sie in der Hand, dazu ein kleines Geschenk. Welche Überraschung! Mittags durfte ich sie zum Pranzo mitbringen. Dabei wurde ich am Ende des Essens wieder mit drei Torten mit der Aufschrift »Auguri«, Schnaps und Cognac überrascht, was mich freute und gleichzeitig irritierte, weil ich ja nur Gast war und nicht zur Kommunität gehörte. Antonio hatte das von Washington aus organisiert. Abends gingen wir mit Paul, einem österreichischen Jesuiten, der gerade als Dozent an der Gregoriana begann, in einem Restaurant unweit der Piazza della Venezia essen – ein entspannter, heiterer Abend, der letzte in Rom.

      Natürlich stand der ganze Tag – unausgesprochen – unter einem besonderen Stern: Würde das vielleicht mein letzter Geburtstag sein? Was, wenn CT oder MRT in der kommenden Woche Metastasen zutage fördern würden? Wie viel Zeit bliebe mir dann noch?

      Vielleicht ist ja Ironie manchmal ein adäquates Mittel, um Unvermeidliches irgendwie zu benennen, zu verarbeiten oder überhaupt ins Wort zu bringen. Auf dem Weg zur Botschaft war mir unweit der Villa Borghese am Eingang der Porta Pinciana eine Statue von Lord Byron (1788–1824) aufgefallen. Die Inschrift des Denkmals für den britischen Dichter der englischen Romantik aus »Childe Harold’s Pilgrimage« hatte es mir schlagartig angetan: »But I have lived, and have not lived in vain: My mind may lose its force, my blood is fire, And my frame perish even in conquering pain; But there is that within me which shall tire Torture and Time, and breathe when I expire.« Der Satz findet sich laut Inschrift im vierten Canto (Kap. CXXXVII) seines autobiografischen Werks, das Hector Berlioz zu der Tondichtung »Harold en Italie« inspirierte.

      Ich höre mich noch zu Astrid sagen: »Das wäre doch ein Grabspruch für mich! ›Aber ich habe nicht umsonst gelebt: Mein Geist mag seine Kraft verlier’n … wenn ich sterbe.‹« Ironie oder Galgenhumor? Es war meine Weise, in dieser Woche vor den Untersuchungen Szenarien auszumalen, in die eine oder andere Richtung. Ich wusste ja nicht, welche Nachrichten noch auf mich zukommen würden.

      Als wir von Paul auf die Dachterrasse der Gregoriana geführt wurden, wo Felix für einen Espresso dazustieß, mit dem ich im Frühjahr 1984 in einer Bibelschule in Israel war (ein Jahr später traten wir beiden in den Orden ein, er in Nürnberg, ich in Innsbruck), oder als uns Jörg durchs Collegio Bellarmino führte, weihte ich diese drei Jesuiten, mit denen ich befreundet bin, in meinen aktuellen Zustand ein. Es wäre mir komisch vorgekommen, wenn sie zwei Wochen später von meiner Erkrankung erfahren hätten. Aber ich bat alle drei, die Information vorerst für sich zu behalten. Es ist nicht leicht, unter dem Eindruck des ersten Schocks stehend, zu entscheiden, wen man daran teilhaben lässt und wen nicht. Oft löst eine solche Nachricht betretenes Schweigen aus. Oder aber einen Wortschwall, um die Situation zu überspielen, was die Sache noch peinlicher macht. Und außerdem: Ich wollte nicht bemitleidet werden. Aber es tat mir gut, wiederholt zu hören: »Ich denke an dich!« Oder auch: »Ich bete für dich!«

      Am 5. Oktober flogen wir nach München zurück, ich mit gemischten Gefühlen, weil ich dem nächsten Arzttermin entgegensah. Weil ich das Schlernmassiv


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