Kaiser Karl. Eva Demmerle
Die gesellschaftlichen, politischen und ethischen Gegebenheiten der Zeit, die untersucht wird, müssen verstanden und berücksichtigt werden. Was für seriöse Historiker eine Selbstverständlichkeit ist, droht in der allgemeinen Diskussion unterzugehen. Aber es gilt nicht nur für Historiker, sondern für alle, die sich mit geschichtlichen Ereignissen beschäftigen. Wir alle unterliegen der Gefahr der Vergegenwärtigung. Und dabei sollten wir uns hüten, historische Ereignisse unter den Bedingungen der Gegenwart zu betrachten. Erst dann erschließt sich uns die Bedeutung des Geschehenen. Und erst danach können wir die Geschichte kommentieren und für unsere Zeit interpretieren und einordnen.
Kaiser Karl hat sich mit seiner Politik gegen den Zeitgeist gestellt, und er tat das bewusst.
Es war durchaus keine Selbstverständlichkeit, während des Ersten Weltkrieges den Krieg zu verurteilen und den Frieden zu suchen. Alle waren kriegsbegeistert, auch Christen waren davon nicht ausgenommen. Der verblendete Glaube an einen Siegfrieden hatte die Eliten voll erfasst, und nur wenige hatten die politische Fantasie, sich auszumalen, was nach einem verlorenen Krieg geschehen würde. Karl ergriff jede Möglichkeit, die sich ihm bot, um mit der Entente ins Gespräch zu kommen. Und wenn Kritiker behaupten, seine Friedensversuche seien ungeschickt gewesen, so bleiben sie doch den Beweis schuldig, wie er es besser hätte machen können. Keine einzige andere Friedensinitiative ist so weit gekommen wie die von Kaiser Karl.
Die Waffenbrüderschaft mit den Deutschen hatte eine gesellschaftlich breite Akzeptanz, doch in Wirklichkeit war sie verheerend für Österreich und den mitteleuropäischen Raum. Im deutschen Oberkommando träumte man von Österreich als eine Satrapie, eine Art zweites Bayern der Hegemonialmacht Deutschland. Auch nach dem Krieg war dieser Traum nicht ausgeträumt, und als Adolf Hitler ihn verwirklichte, stürzte Europa in eine Katastrophe. Karl hat dies vorhergesehen und versucht, sich aus der vertikalen Allianz mit Deutschland zu befreien und ein horizontales Bündnis mit Frankreich (und England) vorzubereiten. Spielt man die Konsequenz dieses Planes durch, so straft das alle Lügen, die von seiner angeblichen politischen Talentlosigkeit sprechen. Nur wenige, David Lloyd George, Aristide Briand und auch Papst Benedikt XV., haben damals erkannt, welche Möglichkeiten sich in Europa mit einem unabhängigen Österreich ergeben hätten.
Und schließlich Karls Modell für Mitteleuropa – eine weitgehende Föderalisierung mit Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Völker mit gemeinsamer Wirtschafts- und Außenpolitik. Er warnte vor einem aufgesplitterten Donauraum mit zahlreichen Kleinstaaten, die als Hort von Instabilität ein politisches Vakuum bilden würden. Auch dafür fehlte seiner Zeit das Verständnis. Es brauchte erst einen zweiten Krieg, weitere Zigmillionen Tote und Vertriebene, bis Europa einen Weg jenseits der Nationalstaaterei gefunden hatte. Und erst 1989 konnte sich Mittel- und Osteuropa aus der Unfreiheit lösen, die auch mit ein Ergebnis der geopolitischen Situation war, die der Erste Weltkrieg und die Friedensverträge der Pariser Vororte hinterlassen haben. Insofern hat die Auseinandersetzung mit Kaiser Karl auch eine politische Dimension, die bis in die Gegenwart reicht.
Die Voraussicht des Kaisers auf die politische Entwicklung der nächsten 20 Jahre war klug und weise, was niemand berücksichtigte. Seine Politik musste er größtenteils als Einzelkämpfer verfolgen. Er prallte an der Verständnislosigkeit und am Kleinmut seiner Umgebung ab. Es war ausgerechnet sein Außenminister Czernin, der anfangs den Friedenswillen zu teilen schien, der mit seiner ungeschickten Politik eine der größten außenpolitischen Katastrophen der Donaumonarchie verursachte.
Am Ende wurde Karl, der Einzige, der versucht hatte, den Krieg zu beenden, von den Alliierten am schäbigsten behandelt. Verschmäht und verleumdet wurden er und seine Familie auf die Insel Madeira verbannt, wo er schließlich völlig entkräftet starb.
Im Rückblick auf Kaiser Karl und die kurze Zeit seines politischen Wirkens sollten wir nun, 100 Jahre später, zu einer Betrachtung jenseits billiger Klischees kommen. Dieses Buch soll nicht die Aufgabe einer detaillierten Biografie erfüllen. Bereits im Jahr 2004 konnte ich bei Amalthea ein ausführlicheres Werk »Kaiser Karl I. Selig, die Frieden stiften …« veröffentlichen. Auch haben andere Autoren sich dieser Aufgabe gewidmet, herauszustellen wäre hier besonders Prof. Elisabeth Kovács mit ihrem zweibändigen Werk »Die österreichische Frage«, mit einem umfangreichen und detaillierten Dokumentationsteil.
Mit diesem Buch möchte ich einige Schwerpunkte setzen, aber auch den vielen Vorwürfen gegen Kaiser Karl entgegentreten. Teilweise wirkt die Propaganda aus dem Ersten Weltkrieg bis heute. Besonderes Augenmerk richte ich auf die Friedensversuche Karls, auch zusammen mit Papst Benedikt XV., dessen Rolle im Ersten Weltkrieg lange nicht gewürdigt wurde. Nicht zuletzt habe ich nach dem Motto »Das Wasser ist an der Quelle am klarsten« im letzten Teil einige Ausschnitte aus Kaiser Karls persönlichen Aufzeichnungen dokumentiert. Zu vielem könnte mehr gesagt werden, vor allem auch zu Ungarn, allerdings ist dies auch immer eine Frage des verfügbaren Rahmens.
Angemerkt sei, dass die korrekte Bezeichnung der Doppelmonarchie »Österreich-Ungarn« lautet. Es ist der einfacheren Lesbarkeit geschuldet, und nicht der Geringschätzung gegenüber den Ungarn, wenn ich mehrheitlich den Begriff »Österreich« beziehungsweise »österreichisch« verwende, wobei selbstverständlich immer Österreich-Ungarn gemeint ist.
Eva Demmerle
Feldafing, im August 2016
Immer näher an den Thron –
Die Erziehung und Ausbildung
Kaiser Karls
Von den zahlreichen Vorwürfen, denen die Person des letzten Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn bereits zu seinen Lebzeiten ausgesetzt war und die sich bis heute zum Teil sogar in der seriösen historischen Betrachtung niederschlagen, wiegt jener seiner mangelnden Erziehung und Ausbildung auf seine verantwortungsvolle Aufgabe hin nicht gering. Überraschend ist, wie sehr sich bis in unsere Tage gewisse ideologische Vorbehalte und Propagandalügen aus dem Ersten Weltkrieg halten.
Die mangelnde Ausbildung passt da gern in zitierte Klischees. Dabei stimmt gerade das nicht. Im Gegensatz zu den Behauptungen, der junge Kaiser, der mit gerade einmal 29 Jahren die Regierung übernommen hatte, sei auf seine Aufgabe nicht vorbereitet gewesen, hatte er eine sehr gute und vor allem zielgerichtete Ausbildung genossen. Zwar war bei seiner Geburt noch nicht klar, dass er einstmals den Thron erben würde, aber die verschiedensten Unglücksfälle und Umstände in der kaiserlichen Familie ließen dies immer wahrscheinlicher werden. Den Eltern war dies sehr bewusst gewesen, und so haben sie frühzeitig die Erziehung des Jungen entsprechend gesteuert, immer in Einklang mit Kaiser Franz Joseph, aber auch in Einklang mit Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand.1
Erzherzog Karl Franz Josef wurde am 17. August 1887 auf Schloss Persenbeug in Niederösterreich geboren. Es schien, als sei er noch sehr weit vom Thron entfernt. Wären nicht verschiedenste Unglücksfälle und andere Umstände in der kaiserlichen Familie geschehen, hätte Karl das typische Leben eines Erzherzogs geführt, mit einer militärischen Karriere – und dann und wann mit Repräsentationsverpflichtungen betraut. Doch 1889, zwei Jahre nach Karls Geburt, kam Kronprinz Rudolf, der einzige Sohn Kaiser Franz Josephs, unter bis heute ungeklärten Umständen in Mayerling2 ums Leben. Der nächste in der Thronfolge war Erzherzog Karl Ludwig, der Vater der Erzherzoge Franz Ferdinand und Otto, dem Vater Karls. Karl Ludwig verstarb im Jahr 1896 während einer Pilgerreise ins Heilige Land. Der Thron rückte immer näher. Grund genug also, den jungen Karl entsprechend vorzubereiten.
Die Eltern Kaiser Karls waren in vielen Dingen unterschiedlicher Ansicht, doch in Hinblick auf die Erziehung ihrer Kinder, vor allem des Erstgeborenen, stimmten sie überein.3 Der Vater, Erzherzog Otto, war ein Mensch von großen künstlerischen Begabungen, von großer Vitalität und Lebensfreude und extrovertiertem Charakter. An Politik war er völlig desinteressiert. Am ehesten weckte noch das Militär sein Interesse, wo er die für einen Erzherzog übliche Laufbahn einschlug. Sicher stand er auch im Schatten seines großen Bruders Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand, der immer schon ein sehr politischer und eigenwilliger Kopf gewesen war. Otto nahm hingegen Repräsentationsaufgaben recht gerne wahr. Es ranken sich etliche Anekdoten um den »feschen Otto« beziehungsweise den »flotten Erzherzog«. Einmal soll er, lediglich mit einem Gürtel, einem Säbel und dem habsburgischen Hausorden, dem Orden vom Goldenen Vlies, bekleidet, durch