Kaiser Karl. Eva Demmerle
der Leichtfertigkeit, die diese überhaupt erst hatte entstehen lassen, in nichts nachstand. Russland war an Serbien gebunden, in dem es von nationalistischen oder sogar terroristischen Splittergruppen nur so wimmelte und das sich keinerlei Sorgen um die Risiken eines Krieges machte: Es hatte nichts zu verlieren. Frankreich hatte Russland, das nach dem russisch-japanischen Krieg um die Wiederherstellung seiner Selbstachtung rang, eine Art Freibrief ausgestellt. Ähnlich verhielt sich Deutschland gegenüber Österreich, das seine slawischen Provinzen verzweifelt gegen serbische Agitation zu schützen suchte, die wiederum durch Russland unterstützt wurde. Die europäischen Staaten hatten sich in die Abhängigkeit von den Wirren des Balkan begeben.«13
Die Rolle der beiden Thronfolger
Die politische Konstellation war auch dem Thronfolger Franz Ferdinand bewusst. Innerhalb wie außerhalb der kaiserlichen Familie war er eine polarisierende Person. Kaiser Franz Joseph hielt ihn auf Distanz, hatte er doch seine Schwierigkeiten mit dem als aufbrausend und stur geltenden Neffen. Beharrlich hatte dieser, ohne Rücksicht auf das Familienstatut und dynastische Notwendigkeiten, an der Wahl seines Herzens festgehalten und die Eheschließung mit Gräfin Sophie Chotek durchgesetzt. Seine Gattin stammte zwar aus altem böhmischen Adel, war aber nach habsburgischem Hausgesetz bei Weitem nicht standesgemäß. Daher hatte Franz Ferdinand am 28. Juni 1900 mit einem feierlichen Renuntiationseid in der Geheimen Ratsstube der Wiener Hofburg auf die Thronfolge für seine Kinder und Kindeskinder verzichten müssen. Durch diesen Verzicht wurde der zu diesem Zeitpunkt 13-jährige Erzherzog Karl der Nächste in der Thronfolge.
Mit Sophie, die am Tag der Hochzeit, dem 1. Juli 1900, zur Fürstin von Hohenberg, später zur Herzogin von Hohenberg erhoben wurde, führte Franz Ferdinand eine überaus glückliche Ehe. Das Paar bekam drei Kinder: Max, Ernst und Sophie. Bei Hofe jedoch, wo das strenge spanische Hofzeremoniell galt und so viele in ihren eigenen Stand verliebt waren, erfuhr die Herzogin von Hohenberg so manche Demütigung. Besonders Obersthofmeister Fürst Montenuovo bestand immer wieder darauf, die Herzogin protokollarisch weit hinter ihrem Mann zu platzieren. Repräsentative Auslandsreisen waren ebenso schwierig, da auch die anderen Höfe Europas die Ehe des Erzherzog-Thronfolgers als Mesalliance betrachteten. Später übernahm Erzherzog Karl wichtige Repräsentationspflichten, beispielsweise die Reise nach London zur Krönung König Georg V im Juni 1911.
Franz Ferdinand war ein zutiefst politischer Mensch, allerdings wurde ihm der Zugang zu den politischen Entscheidungen des Reiches durch seinen kaiserlichen Onkel zunächst verwehrt. Dafür aber widmete er sich intensiv dem Militär und eignete sich intensive und vertiefte Kenntnisse an. 1906 wurde er zum Generalinspektor der gesamten bewaffneten Macht ernannt. Auf diesem Gebiet schätzte Kaiser Franz Joseph durchaus die Meinung und die Fähigkeit seines Neffen.
Unablässig machte Franz Ferdinand sich Gedanken über die notwendige Reform des Reiches und diskutierte diese mit den Mitgliedern der Militärkanzlei, die eine Art Gegenregierung war, im Schloss Belvedere. Im Gegensatz zum liberalen Kaiser Franz Joseph war er ein echter Konservativer. Im Falle seiner Regierungsübernahme hätte er eher eine konservative Wende herbeigeführt als eine wirkliche Liberalisierung des Reiches.14 Den Ausgleich von 1867 mit den Ungarn sah er durchaus kritisch und diskutierte darüber immer wieder mit dem Kaiser. Das Wort von Franz Ferdinand als »Seiner Majestät getreueste Opposition«15 machte die Runde. Vielfach wurde behauptet, dass Franz Ferdinand den Dualismus zugunsten eines Trialismus brechen wollte, doch viel mehr lag ihm daran, die ungarischen Privilegien, die einer gemeinsamen gedeihlichen Entwicklung des gesamten Staatswesens entgegenstanden, zurückzuschrauben und den anderen Nationalitäten, insbesondere den Slawen, mehr Eigenständigkeit zu geben. Die oft zitierte Abneigung gegen die Ungarn richtete sich nicht gegen das ungarische Volk, sondern gegen die ungarischen Politiker, die die ungarischen Privilegien eisern verteidigten.
Wesentlich ist aber vor allem, dass Franz Ferdinand im außenpolitischen Bereich zu den »Tauben« gehörte. Zum »Falken« Conrad von Hötzendorf hatte er ein durchaus gespaltenes Verhältnis und lehnte dessen Befürwortung eines Präventivkrieges gegen Serbien und Italien ab. Zu diesem Zeitpunkt hielt Franz Ferdinand einen Krieg nicht für richtig, da für ihn die innenpolitischen Reformen Priorität16 besaßen.
Im Laufe der Jahre konnte sich Franz Ferdinand bedeutenden Einfluss auf die Politik erarbeiten. Die Rolle des Thronfolgers war nicht genau definiert, aber mit viel Geschick und guten Mitarbeitern gelang es ihm, mit seiner Militärkanzlei im Unteren Belvedere ein eigenes Machtzentrum zu installieren. In den letzten Jahren ging nahezu jede Personalentscheidung über seinen Tisch, und über diese verfügte Franz Ferdinand gerade im außenpolitischen Bereich erheblichen Einfluss.17
Mit seinem Neffen Karl verband ihn ein freundschaftlichväterliches Verhältnis, und er zeigte reges Interesse an dessen Ausbildung. Auch Karl brachte Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie große Zuneigung und Respekt entgegen. An der Seite seines Onkels nahm er an verschiedenen Kaisermanövern teil und gewann dadurch Einblick in die Aufgaben eines höheren Kommandos. Zwischenzeitlich hatte er seine staatswissenschaftlichen Studien in Prag erfolgreich und mit Auszeichnung beendet. Im Frühjahr 1908 kehrte er wieder zurück zur 5. Eskadron der 7er Dragoner in Altbunzlau, die im März 1912 nach Kolomea in Ostgalizien verlegt wurde. Am 1. November 1912 wurde er zum Major im Infanterieregiment Nr. 39 ernannt und übernahm das Kommando des 1. Bataillons in der Stiftskaserne zu Wien. Seine Interessenschwerpunkte im militärischen Bereich lagen vor allem in der Weiterentwicklung eines gut funktionierenden Fernmeldesystems sowie der Artillerie. Intensiv aber kümmerte er sich um die Luftfahrt, sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich, im Gegensatz zu Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand, der vor allem der Waffengattung der Marine verbunden war.
An die Öffentlichkeit trat der junge Erzherzog kaum. Hin und wieder übernahm er Repräsentationspflichten. Seine Funktionen in der Armee waren eher unspektakulär, und er vermisste die geistige Herausforderung nach den intensiven Jahren seines Studiums. Am 21. Oktober 1911 heiratete er Prinzessin Zita von Bourbon-Parma. Für beide eine Liebesehe – aber durchaus auch sehr begrüßt von Kaiser Franz Joseph, angesichts der zahlreichen Mesalliancen innerhalb der Familie. Das Paar nahm zunächst Wohnung in Brandeis an der Elbe, nach der Versetzung begleitete Zita ihren Mann nach Ostgalizien, und wieder zurück in Wien wurde ihnen vom Kaiser Schloss Hetzendorf unweit von Schönbrunn als Wohnung zugewiesen. Im November 1912 hatte Zita ihr erstes Kind geboren. Die Nachricht von der Geburt des kleinen Otto brachte Karl als künftigen Thronfolger wieder in den Blick der Öffentlichkeit. Dennoch konnte die kleine Familie ihr Privatleben weitestgehend ungestört genießen.
Karl war klug genug, um in politischen Dingen offiziell Abstinenz zu üben. Zum einen spielte sicherlich die Überlegung eine Rolle, dass er angesichts des noch lebenden Kaisers Franz Joseph und des sich in seinen Vierzigern befindenden Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand noch einige Jahrzehnte Zeit haben würde, bis ihm die politische Verantwortung des Thrones zufallen würde. Davor aber würde er lange Jahre als Thronfolger unter den aufmerksamen Augen eines Kaisers Franz Ferdinand verbringen. Zum anderen beobachtete er natürlich die Konkurrenzsituation und die damit verbundene Intrigenwirtschaft zwischen der Hofburg und der »Gegenregierung« der Militärkanzlei in Schloss Belvedere. Ein drittes Machtzentrum in Schloss Hetzendorf war für ihn nicht denkbar. Er fühlte Loyalität sowohl zum Kaiser als auch zu Franz Ferdinand. Politische Abstinenz hieß aber nicht, dass Karl sich nicht seine eigenen Gedanken zur Situation des Reiches machte. Die Notwendigkeit von Reformen war damals allgemeiner Diskussionsgegenstand. Die ganze Gesellschaft diskutierte das Für und Wider von Dualismus, Trialismus, Verwaltungsgrenzen, Zentralisierung oder Dezentralisierung.
Seine Frau Zita erinnerte sich: »Zum ersten Mal hörte ich von ihm seine Ideen über die Monarchie im April 1911, als wir uns eben verlobt hatten und der Thron noch in weiter Ferne schien. […] Er sagte mir: ›Der Dualismus ist nicht zu retten. Trialismus aber ist nicht gerecht und geht überhaupt nicht weit genug. Die einzige Lösung ist eine echt föderative, um allen Völkern gleiche Möglichkeiten zu geben.‹ Das umriss genau seine Haltung, und er ging nie von ihr ab. […] Bei einer anderen Gelegenheit hörte ich ihn sagen, als er über die Pflichten eines Kaisers sprach: ›Ein Vater macht zwischen seinen Kindern keinen Unterschied.‹ […] Wir hatten nicht weniger als 17 Nationalitäten, wenn man die kleinen ebenso mitzählt wie die elf Hauptgruppen. Er war entschlossen, allen 17 die individuelle Freiheit zu geben, falls sie dies wünschten, zum