Kaiser Karl. Eva Demmerle

Kaiser Karl - Eva Demmerle


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politische Landkarte Europas

      Österreich-Ungarn war ein kompliziertes Gebilde. 17 Nationalitäten lebten in unterschiedlich ausgeprägter Staatlichkeit unter dem Dach der habsburgischen Dynastie. Die vielen Volksgruppen und Nationalitäten zu regieren, war schwierig, aber nicht unmöglich. Es ist richtig, dass viel, auch innerhalb der Monarchie in den letzten Jahren vor dem Krieg, von einem drohenden Untergang gesprochen wurde, aber faktisch wies nichts darauf hin. Vor 1914 hatte es keinerlei revolutionäre Stimmung gegeben.10 Der ökonomische Aufschwung, der ganz Europa durch die Industrialisierung erfasst hatte, hatte auch Österreich einen neuen Wohlstand beschert. Die wirtschaftliche Kraft des Österreich vor 1914 wurde erst in den 1950er-Jahren wieder erreicht. Gleichzeitig förderten die Vielfalt und das Nebeneinander der Nationalitäten eine außerordentliche kulturelle Blüte. Die Klammer dieses Vielvölkergemischs war die Dynastie. Wenn Kaiser Franz Joseph sagte: »Ich habe dann gut regiert, wenn alle meine Völker gleichermaßen unzufrieden sind«, so bedeutete dies, dass zu einer guten Regierung dieses multinationalen Staates viel Fingerspitzengefühl, Takt und Rücksichtnahme notwendig waren. Streitigkeiten konnten immer wieder beigelegt werden, und der Mährische Ausgleich von 1905 zeigte in Bezug auf die Nationalitätenvertretung in die richtige Richtung. Generell war das »alte« Österreich ein liberaler Staat,11 der dem Einzelnen und den Volksgruppen viele Freiräume geboten hat. Die »checks and balances« mussten zwar immer wieder neu gefunden werden, aber in seiner ganzen Sensibilität war das System bemerkenswert stabil.

      Notwendige Reformschritte wurden von den Eliten intensiv diskutiert. Vor allem die Staatsstruktur infolge des Ausgleichs mit Ungarn war Gegenstand permanenter Überlegungen. Der Ausgleich aus dem Jahr 1867 hatte das Verhältnis zu den Ungarn geklärt, aber eben nur zu den Ungarn. Teilweise widersprachen sich sogar die Verfassungen der beiden Reichshälften, Cisleithanien (Österreich) und Transleithanien (Ungarn). Zudem wachten die ungarischen Magnaten, die einen Großteil der Macht in ihren Händen hielten, eifersüchtig über den Erhalt ihrer Privilegien. Das ungarische System trug noch immer feudalistische Züge, der slawische Bevölkerungsanteil war im ungarischen Parlament stark unterrepräsentiert. Dieses System des Dualismus beförderte die Frustration der slawischen Völker. Vergeblich hatten die Tschechen gehofft, dass die Länder der Wenzelskrone im Staatskonstrukt adäquat berücksichtigt würden. Der Nationalismus, die große Welle des 19. Jahrhunderts, machte auch vor Österreich nicht halt. Panslawistische Bewegungen konnten unter diesen Bedingungen rasch zu einer politisch relevanten Größe heranwachsen, dies vor allem im Süden des Reiches. Und damit wurde die Innenpolitik auch relevant für die Außenpolitik.

      Mit dem Ausscheiden aus dem Deutschen Bund 1866 und dem vorherigen Ausschluss aus Italien hatte sich der Schwerpunkt der österreichischen Außenpolitik auf den Balkan verschoben. Da das Osmanische Großreich zunehmend Schwäche zeigte, jonglierten vor allem Russland und Österreich-Ungarn um ihre Einflusssphären. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatten beide Großmächte verschiedenste Vereinbarungen getroffen, ihre jeweiligen Interessen auf dem Balkan zu berücksichtigen. Der Schlüsselpunkt für Österreich war Serbien, welches sich aber nach dem Königsmord an den habsburgfreundlichen Obrenovic im Jahr 1903 mit der neuen Dynastie der Karadordevic zunehmend mehr an Russland anlehnte. Der Panslawismus entwickelte sich als bestimmende Kraft. Serbien sah sich als Keimzelle eines mächtigen südslawischen Reiches gegen die als moribund empfundenen Großmächte Osmanisches Reich und Österreich-Ungarn. Der serbische Nationalismus war eine Idee, die auch außerhalb der engen Grenzen des kleinen Königreichs zündete. Ganz Serbien war voll von kleinen und kleinsten Agitationsgruppen, die zum Teil mit Wissen der Regierung ihre Zündelei betrieben, sogar oftmals unter der Hand personell und materiell unterstützt.

      Die dauernden Balkankrisen spielten sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden Konfrontationspolitik der europäischen Staaten ab. Das Deutsche Reich, das seit der Reichsgründung 1871 eine kraftvolle wirtschaftliche Entwicklung genommen hatte, strotzte vor Energie und forderte mit seiner Flottenrüstung und dem kolonialen Streben nach einem »Platz an der Sonne« die traditionelle Seemacht Großbritannien heraus. Dazu kamen die Taktlosigkeiten und diplomatischen Ungeschicklichkeiten Kaiser Wilhelms, der sich zwar in martialischen Reden gefiel, aber in Wirklichkeit den Krieg fürchtete. Großbritannien war entschlossen, seine Seemacht gegenüber Deutschland um jeden Preis zu verteidigen, und der 1904 gelungene Ausgleich mit Frankreich (»Entente Cordiale«) machte nicht nur die Abkehr von der klassischen Linie der »splendid isolation« deutlich, sondern galt auch als ein beträchtlicher diplomatischer Triumph über Berlin. Seit etwa 1910 war überdies klar, dass die deutsche Flottenrüstung die Vormacht der Grand Fleet nicht brechen konnte. Frankreich sann unerbittlich auf Revanche, um vom Deutschen Reich die 1870/71 verlorenen Provinzen Elsass und Lothringen zurückzugewinnen. Das Gleichgewicht der Kräfte, das einst von Metternich kunstvoll gesponnen worden war, war nicht mehr vorhanden. Bismarck hatte, natürlich aus einer sehr deutschen Sicht heraus, die immer den eigenen Vorteil im Blick hatte, eine geschickte Bündnispolitik geführt. Das System, welches er installierte, war zwar der Struktur nach ein konfrontatives, doch blieb es dank seiner Genialität immer noch elastisch – auch durch den Rückversicherungsvertrag, den das Deutsche Reich mit Russland geschlossen hatte. Nach Bismarcks Entlassung war in Berlin niemand mehr, der, wie der neue Kanzler General Leo von Caprivi zugab, mit acht Bällen gleichzeitig jonglieren konnte.

      Spätestens seit Russland den Krieg 1905 in Ostasien gegen das aufstrebende japanische Kaiserreich verloren hatte, gewannen in St. Petersburg die Panslawisten so stark an Boden, dass man von einer mächtigen Kriegspartei sprechen konnte. Nirgendwo war das politisch rückständige Russland so populär wie auf dem Balkan, von dem sich das Osmanische Reich trotz zähen Widerstandes immer weiter zurückziehen musste. Während der Zarenthron innenpolitisch mit dem Rücken an der Wand stand und schwere Unruhen wie im Jahr 1905 fürchten musste, gelang außenpolitisch eine bisher kaum für möglich gehaltene Annäherung an Frankreich. Die Entente Cordiale von 1891, in der man sich gegenseitige diplomatische Unterstützung versprach, die im Jahr darauf folgende Militärkonvention und die gemeinsame Flottenkonvention von 1912 sind wesentliche Meilensteine dieser Entwicklung, die letztlich durch die Furcht vor dem mächtigen Deutschen Reich möglich gemacht wurde. Henry Kissinger bezeichnet diesen Koalitionsalbtraum Bismarcks als die Wasserscheide Europas auf dem Weg in den Krieg und den Anfang vom Ende der Balance of Power.12

      Unterhalb der Schwelle einer Großmacht, aber als Zünglein an der Waage von beiden Seiten begehrt, betrieb das 1870/71 im Schatten des deutsch-französischen Krieges geformte Königreich Italien eine ehrgeizige Politik. Obwohl mit Österreich-Ungarn im Dreibund zusammengeschlossen, hatte das Königreich des Hauses Savoyen die Hoffnung auf den Anschluss der italienisch sprechenden Gebiete Österreich-Ungarns, vor allem Trient und Triest mit dem Hinterland, nie wirklich aufgegeben. Auf dem Balkan widersetzte sich Rom dem serbischen Streben zur Adriaküste und erhob Ansprüche auf Albanien. Der deutsche Partner im Dreibund war zugleich Vorbild beim Streben nach einem »angemessenen« Kolonialreich. Die italienischen Augen richteten sich auf die Ägäis und vor allem nach Afrika.

      Die Bündnisse, die Otto von Bismarck eingefädelt hatte, vor allem der Rückversicherungsvertrag mit Russland aus dem Jahre 1887 und die Einbindung Italiens im Dreibund 1882, sollten vor allem defensiven Charakter haben. Der Berliner Kongress 1878 vermochte die politische Landschaft Europas auf Jahrzehnte zu stabilisieren. Das Deutsche Reich und Österreich näherten sich wieder an, und mühsam konnten Österreich und Russland sich über einen Interessenausgleich auf dem Balkan einigen. Kaiser Wilhelms Politik der freien Hand und der militärischen Stärke untergrub hingegen schrittweise die Fundamente der Bismarck’schen Friedensstrategie. Die Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrages mit Russland in 1890 war ein böses Omen für die Zukunft. Das diffuse Gefühl, ein großer Krieg sei nicht mehr zu vermeiden, sondern nur noch eine Frage der Zeit, gewann eine fatale Eigendynamik. Vielfach herrschte das Gefühl, die Zeit arbeite gegen einen und man würde den günstigsten Kriegstermin verpassen. Dies trifft sowohl für den deutschen als auch den russischen Generalstab zu. Die deutschen und französischen Heeresvorlagen des Jahres 1913 belegen den sich zuspitzenden Rüstungswettlauf der europäischen Mächte. Fatal war auch die Einschätzung über die Natur des Krieges, vielfach herrschte dennoch die »Mann-gegen-Mann-Mentalität« vor, die man aus dem Krieg von 1870/71 kannte. Niemand rechnete mit den Technologien, die die Kriegsherren nun in den Händen hielten.

      Henry


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