Funkelsee – Versunken in der Pferdebucht (Band 2). Ina Krabbe
Originalcopyright © 2017 Südpol Verlag, Grevenbroich
Autor: Ina Krabbe
Illustrationen: Ina Krabbe
E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim
ISBN: 978-3-943086-58-4
Alle Rechte vorbehalten.
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1. Kapitel
Malu trat fester in die Pedale. Der kalte Fahrtwind zog durch ihre dünne Jacke und kroch unter die Jeans. Sie fröstelte. Was aber nicht nur an der feucht-kalten Herbstluft, sondern auch an dem einsamen Feldweg lag, in den sie jetzt einbog und der sich in der Dämmerung endlos zwischen Wiesen und Feldern entlangzog. Malu sah sich unbehaglich um, keine Menschenseele weit und breit. Es musste inzwischen fast halb neun sein, wer sollte sich um diese Zeit auch noch hier herumtreiben? Den Weg benutzten nur die Bauern, die zu ihren Feldern wollten, Hundebesitzer oder Besucher von Schloss Funkelfeld. Und außer ihr wollte da jetzt keiner mehr hin.
Sie war einfach viel zu spät vom Muffins aufgebrochen. Erst als Hennes, der Besitzer des kleinen Bistros, ihnen schon fast die Stühle unter dem Hintern weggezogen hatte, weil er endlich schließen wollte, hatte sie mit Lea kichernd das Muffins verlassen.
Ihre beste Freundin Lea hatte die erste Woche der Herbstferien mit ihrer Mutter in einem Wellnesshotel mit angeschlossener Schönheitsfarm verbracht. (Lea sah zum Glück genauso aus wie vorher!) Obwohl sie ihr jeden Tag mindestens hundert Nachrichten geschickt hatte (ein sicheres Zeichen dafür, dass Lea stinklangweilig gewesen war!) und Malu eigentlich schon alles hätte wissen müssen, hatten sich die beiden noch stundenlang Neues zu erzählen. Außerdem hatte Lea den ganzen Nachmittag geheimnisvolle Andeutungen gemacht, dass Malu am nächsten Tag eine Überraschung erleben würde – und was für eine! Damit würde sie niemals rechnen, sich aber garantiert freuen. Vielleicht. Mehr war aus Lea nicht herauszubekommen. Malu platzte fast vor Neugier und ihre Freundin kringelte sich vor Lachen. Und so hatten die beiden gar nicht gemerkt, wie spät es plötzlich geworden war. Zum Glück hatte Malus Mutter heute Nachtschicht und würde gar nicht mitbekommen, um welche Uhrzeit ihre Tochter noch mutterseelenallein durch einsame Landschaften radelte. Spätestes um halb acht musste sie normalerweise zuhause sein. Sie hätte ihr auf jeden Fall eine Woche Hausarrest aufgebrummt oder – schlimmer noch – eine Woche Stallverbot!
Rechts von ihr zog sich jetzt das Stoppelfeld entlang, über das sie am Morgen noch mit Papilopulus geritten war. Natürlich nur langsam, erst im Schritt und dann nur ganz kurz im Trab. Papi war zwar das wundervollste Pferd der ganzen Welt, aber der dunkelbraune Wallach war schon ziemlich alt und Malu wollte ihn nicht überfordern. Sie seufzte. Mit ihm hätte sie sich jetzt irgendwie sicherer gefühlt als auf ihrem Mountainbike.
Endlich tauchte vor ihr der Wald auf, der schon zu den Ländereien von Schloss Funkelfeld gehörte. Jetzt war es nicht mehr weit. Ein Stückchen noch und dann konnte sie in die alte Kastanienallee einbiegen, die bis zum rostigen Schlosstor führte. In ihrer hinteren Hosentasche spürte Malu ein kurzes Vibrieren und dann kam dumpf ein DUBI-DÜLÜT-DUBIDUU daraus hervor. Sie lächelte, Lea war bestimmt gerade zuhause angekommen und hatte ihr eine Nachricht geschrieben. Ob sie Ärger bekommen hatte? Oder waren ihre Eltern noch bei Freunden gewesen, was Lea gehofft hatte? Sie würde ihr später zurückschreiben, jetzt wollte sie erst mal so schnell wie möglich selber nach Hause.
Malu löste die klammen Finger vom Lenker und hauchte hinein. Ob Edgar sie vermisst hatte? Bestimmt nicht, sonst hätte er längst angerufen und sie zur Schnecke gemacht. Manchmal übertrieb er seine Rolle als älterer Bruder schon ziemlich, obwohl er bis vor ein paar Monaten noch gar nicht gewusst hatte, dass er überhaupt eine Schwester hatte. (Genauer gesagt Halbschwester!) Und sie hatte von der Existenz ihres Bruders genauso wenig gewusst – na ja, sie hatte eine ganze Menge nicht gewusst, noch nicht mal, wer ihr Vater war! Und auch nicht, dass sie eine echte von Funkelfeld war. Eigentlich kam es ihr bis heute total unwirklich vor, dass ihr Vater, der auch Edgars Vater war, als Erbe von Schloss Funkelfeld das ganze Anwesen Edgar, seinem ältesten Kind, vererbt hatte und sie jetzt zusammen mit ihm und ihrer Mutter dort wohnte.
Es war ein bisschen wie in einem superkitschigen Traum und Malu hatte manchmal Angst davor aufzuwachen und wieder in ihrem Bett in der kleinen Dachgeschosswohnung in der Stadt zu liegen. Sie würde sich seufzend umdrehen und versuchen noch mal einzuschlafen, um zurück in diesen wunderbaren Traum zu kommen.
PFFFIITTT! Ein pfeifendes Geräusch riss Malu aus ihren Gedanken. Im nächsten Moment holperte ihr Vorderrad nur noch auf der Felge und der Mantel schlackerte luftlos herum. Fluchend hielt sie an und besah sich den Schaden. Der Reifen war komplett platt. Was für ein megamäßiger Mist!
Sie blickte sich etwas beklommen auf dem einsamen, dusteren Feldweg um. Hilfe konnte sie hier wohl keine erwarten. Aber es war ja auch nicht mehr weit bis zum Schloss. Musste sie eben schieben. Kurz spielte sie mit dem Gedanken Edgar anzurufen, aber dann würde sie sich eine ziemliche Standpauke anhören müssen und sie hoffte ja immer noch, es unentdeckt in ihr Zimmer zu schaffen.
Sie packte ihr Mountainbike und schob tapfer drauflos. Rechts kamen schon die Weiden in Sicht, die zum Schloss gehörten, aber an benachbarte Bauern verpachtet waren, da es im ehemaligen Gestüt Funkelfeld zur Zeit nicht besonders viele Pferde gab. Links von ihr erhob sich der Wald wie eine dunkle Wand, hinter der sich der Funkelsee verbarg. Malu versuchte zwischen den Bäumen einen Blick darauf zu erhaschen, aber alles, was sie sehen konnte, waren weiße Nebelschwaden, die langsam vom Seeufer durch die Bäume auf den Weg krochen. Malu lief ein Schauer den Rücken herunter und sie spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten.
Ok, es war Herbst, da war es völlig normal, dass sich über Gewässern Nebel bildete, versuchte sie sich zu beruhigen. Trotzdem war es verdammt noch mal gruselig! Malu fiel in einen zügigen Laufschritt, so schnell das mit dem platten Fahrrad, das sie neben sich herzerrte, eben ging. Ihr Herz klopfte wie verrückt, als endlich die dicken Kastanienbäume vor ihr auftauchten. Gleich hatte sie es geschafft!
Da knackte es neben ihr im Wald – so laut, als ob sich etwas Großes, Schweres durch das Unterholz bewegte. Malu stoppte erschrocken und starrte in das undurchdringliche Gewirr aus Ästen. Ihr wurde eiskalt und gleichzeitig brach ihr der Schweiß aus. Was um Himmels willen war das?! Denn was es auch war, es kam direkt auf sie zu!
Wie angewurzelt stand sie da. Und auch wenn es in ihrem Kopf schrie: Lauf weg, hau ab! – es ging nicht, sie konnte sich einfach nicht bewegen. Sie starrte ins Gebüsch und versuchte in den Nebelschwaden etwas zu erkennen.
Doch was sie dann hörte, ließ augenblicklich alle Anspannung von ihr abfallen: ein leises, warmes Schnauben. Malu hatte das Gefühl, nie ein lieblicheres Geräusch gehört zu haben: Pferdeschnauben! Erleichtert lockerte sie ihre Finger – sie hatte gar nicht gemerkt, wie krampfhaft sie den Fahrradlenker umklammert hatte.
Es knackte wieder, Hufe tappten auf festem Waldboden. Ob es eins von ihren Pferden war? Aber was machte das zu so später Stunde hier im Wald?
Malu ließ ihr Fahrrad auf den Grasstreifen fallen und näherte sich vorsichtig dem Waldrand. »Papilopulus«, rief sie leise nach ihrem Pferd. »Papi, komm.«
Im Wald war es plötzlich ganz still, das Pferd war stehen geblieben. Dann konnte es Papilopulus schon mal nicht sein, der wäre sofort zu ihr gekommen.
Zwischen den dichten Zweigen der Haselnusssträucher und Holunderbüsche entdeckte Malu eine kleine Lücke und zwängte sich hindurch. Dahinter war tatsächlich ein Weg zu erkennen – wenn auch ein ziemlich zugewachsener –, der in den Wald hineinführte. Verwundert drückte Malu ein paar Äste zur Seite, doch viel sehen konnte sie nicht. Schon nach ein paar Metern verschwand