Funkelsee – Versunken in der Pferdebucht (Band 2). Ina Krabbe
»Genau! Und in deinem Alter solltest du dich um diese Zeit auch nicht alleine da draußen herumtreiben. Warte mal eben ...« Edgar verstummte kurz und Malu wandte sich wieder dem Schimmel zu, der sich jetzt ganz nah herantraute. »Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt«, murmelte sie. Ihre Beine fühlten sich immer noch an wie aus Gummi. »Das erzähle ich nicht mal Lea, dass ich dich für einen Geist gehalten habe. Die lachen sich ja alle scheckig über mich im Muffins.«
Das Pferd schnaubte bestätigend und bohrte dann seine samtene Schnauze in Malus Hand. Aber zu seiner Enttäuschung war da tatsächlich nichts zu holen.
»Bei uns im Stall hab ich was Leckeres für dich«, sagte sie tröstend. »Am besten nehme ich dich erst mal mit. Irgendjemand wird dich ja vermissen.«
»Malu?« Edgars Stimme schallte laut aus ihrem Handy.
Der Schimmel zuckte mit dem Kopf zurück.
»Schrei doch nicht so, ich bin ja nicht taub. Du verschreckst noch das Pferd.«
»Das Gespensterpferd?«, fragte Edgar skeptisch.
»Hab ich nie gesagt«, quetschte Malu hervor.
»Lea sagt, dass ihr nur einen riesigen Schoko-Eisbecher gegessen habt. Vielleicht bist du ja allergisch dagegen.«
»Bestimmt nicht! Schreibst du gerade mit Lea?«
»Und wenn?«
»Sag ihr bloß nichts von dem Geisterpferd!«, drohte Malu. Ihr Handy surrte. »Moment mal, Edgar.« Nachricht von Lea. Malu scrollte sich schnell durch Drohungen wie Antworte gefälligst. – Ich kündige dir die Freundschaft. Du gehst sofort aus dem Wald. – Ich hetz dir meine Mutter auf den Hals! bis hin zur letzten Nachricht: Was hast du gesehen??? Ein Geisterpferd??? Ohne Augen???? Du weißt schon, dass es keine Geister gibt, oder??? Muss ich mir Sorgen machen?
Na toll! Danke, Edgar!
Quatsch Geisterpferd. Ein weißes Pferd! Hat Edgar wohl falsch verstanden, tippte sie schnell. (So eine alte Petze, ihr Bruder!)
Sie strich dem weißen Riesen beruhigend über den knöchernen Nasenrücken, als ihr Blick wieder auf die leere Augenhöhle fiel. Auch wenn sie jetzt wusste, dass dieses Pferd hier quicklebendig war, bekam sie eine Gänsehaut bei dem Anblick. Was war mit dem armen Tier nur passiert?
»Malu, bist du noch da?«
Ups, ihren Bruder hatte sie glatt vergessen. Gerade als sie antworten wollte, knackte es hinter ihr erneut in den Büschen und ließ sie und das Pferd aufschrecken. Ein Licht bahnte sich einen Weg durch die Zweige auf sie zu. Wer war das jetzt? Langsam reichte es Malu mit unheimlichen Begegnungen. Ob da jemand auf der Suche nach dem Pferd war? Sie wollte auf keinen Fall hier im Wald auf jemanden treffen, den sie nicht kannte!
»Edgar«, flüsterte sie ins Handy. »Da kommt einer. Was soll ich machen?«
»Wo bist du denn? Verdammt, Malu! Ich suche dich.«
»Der kommt immer näher«, krächzte Malu. »Und er hat eine Lampe dabei.«
Von Edgar ertönte ein völlig unpassendes Kichern aus dem Handy.
»Was gibt’s da zu lachen?« Malu war nur froh, den warmen Atem des weißen Pferdes im Nacken zu spüren. So fühlte sie sich wenigstens nicht ganz alleine in diesem Gruselwald.
»Bewegt sich das Licht jetzt hoch und runter?«, fragte Edgar.
Tatsächlich. Malu nickte, aber dann wurde ihr klar, dass Edgar das ja nicht sehen konnte. »Stimmt, woher weißt du das? Bist du irgendwo in der Nähe?«
»Kann man so sagen«, lachte ihr Bruder, dann legte er auf.
Verwirrt betrachtete Malu ihr Handy. Was sollte das denn jetzt? Doch im selben Moment wedelte die Lampe wild durch die Zweige und Edgar brüllte: »Malu, ich bin hier!«
Ihr fiel ein ganzer Felsbrocken vom Herzen. Das Licht war niemand anders als ihr Bruder Edgar! Der Schimmel war aber nicht annähernd so erfreut wie sie. Ängstlich warf er den Kopf hoch, blähte die Nüstern und mit einem letzten Blick aus seinem dunklen Auge machte er auf der Hinterhand kehrt und galoppierte in die Nebelwand zurück, aus der er gekommen war. Ein paar Sekunden später stolperte Edgar aus den Büschen und leuchtete Malu ins Gesicht. »Was machst du nur für einen Mist!«, stöhnte er.
Sie umarmte ihn erleichtert und griff dann nach der Taschenlampe. »Du hast das Pferd mit deinem Gebrüll vertrieben«, sagte sie vorwurfsvoll und leuchtete den Weg hinunter in die Richtung, in der es verschwunden war. Aber das Licht prallte gegen die Nebeltröpfchen und zeigte nur eine weiße Wand.
»Was denn? Dein Geisterpferd?«, grinste Edgar. »Ich glaube, der Nebel hat dir das Hirn vernebelt, Schwesterchen.«
»Der Schimmel ist hier entlanggelaufen.« Malu zog ihren Bruder hinter sich her. »Wir müssen ihn suchen, der Arme hat sich bestimmt verlaufen.«
Edgar schüttelte energisch den Kopf. »Vergiss es. Keine Chance. Wir zwei beide gehen jetzt hübsch nach Hause. Rebecca gibt sofort die Vormundschaft für mich zurück, wenn ich weiter mit dir durch den Wald stapfe.« Er packte sie an der Hand und zog sie in die andere Richtung. »Und was auch immer du gesehen hast, ich versichere dir, dass es kein Geist war.«
»Es war ein Schimmel, das hab ich doch gesagt!« Aber Malu gab sich geschlagen und folgte Edgar. Eigentlich war sie auch froh, endlich diesen Gruselwald verlassen zu können, aber das Pferd hätte sie gerne mitgenommen. Hoffentlich kam es zurecht, so ganz alleine im Wald. Sie würde sich morgen Früh gleich auf die Suche nach ihm machen.
Als die beiden zurück auf die Straße stolperten, merkte Malu mit einem Mal, wie müde sie war. Sie hätte im Stehen einschlafen können. Aber zuerst musste sie ihr plattes Fahrrad aufsammeln und neben Edgar nach Hause schieben. Auf der Kastanienallee sprang plötzlich ein Reh vor ihnen über den Weg und verschwand auf der anderen Seite im Wald.
»Guck mal, ein Geisterreh«, lachte Edgar. »Oder vielleicht sogar ein Geisterpferd?« Er zog fragend eine Augenbraue nach oben und musterte seine Schwester von der Seite.
»Da war ein Pferd im Wald, ob du es glaubst oder nicht!«, zischte Malu. In ihr brodelte es. Jaja, ihr Bruder war ihr nachts zu Hilfe gekommen und ja, sie hatte sich immer einen großen Bruder gewünscht. Aber sie hasste es, wenn man ihr nicht glaubte, und noch mehr, wenn man sich über sie lustig machte! Und deswegen würde sie mit Edgar kein Wort mehr reden! Den Rest des Jahres nicht mehr! (Oder die restlichen Ferien nicht – oder zumindest nicht bis morgen Früh!)
Im Schlosshof angekommen, lehnte Malu ihr Fahrrad an den Zaun und stapfte wortlos zu ihrer Wohnung hinüber, die im linken Seitentrakt des Hauptgebäudes untergebracht war. Sie schaffte es gerade noch im Vorbeigehen einen Blick in den Offenstall zu werfen. Papilopulus stand in entspannter Haltung da, den Kopf gesenkt, einen Hinterhuf angewinkelt und schlief. Direkt neben ihm sah sie die Hinterteile von Rocco und Alibaba, die sich dicht aneinandergedrängt hatten. Trotz allem musste Malu bei diesem friedlichen Anblick lächeln.
Eine Minute später lag Malu schon im Bett mit sehr flüchtig geputzten Zähnen. Was für ein Tag! Schon nach ein paar Sekunden verabschiedete sie sich in einen aufregenden Traum, in dem ein weißes einäugiges Pferd die Hauptrolle spielte.
Ein lautes Tröten drängte sich penetrant in Malus Traum. Irgendwann merkte sie, dass es da einfach nicht hineinpasste und wachte unwillig auf. Tatsächlich kam das Hupen vom Schlosshof. Malu quälte sich aus dem Bett zum Fenster und warf einen Blick nach unten. Edgar flitzte gerade zu dem großen Postwagen und nahm ein kleines Paket in Empfang. Dass dieser Kerl immer so hupen musste, wenn er hier etwas abzugeben hatte. Nur weil er keine Lust hatte, in dem großen Anwesen jemanden zu suchen. Obwohl nur die beiden Seitenflügel bewohnt waren, das Hauptschloss selbst war in einem so schlechten Zustand, dass es nur noch Mäusen und achtbeinigen Lebewesen als Unterschlupf diente. Aber es thronte immer noch stolz mit seinen drei Stockwerken, der großen Freitreppe und den beiden Türmchen, die aus dem Dach ragten, auf dem Schlossplatz.
Malu gähnte und warf einen sehnsüchtigen Blick