Das Erbe von Grüenlant. Band 3: Schwarzes Land. Christina Kunz
Mann war – aus der anderen Welt. Er hatte mit Natalie zusammengearbeitet, dort hatte er ihn gesehen. Was um alles in der Welt tat er hier? Und Varuschka – hatte sie seine Anwesenheit gespürt?
Gerbin, alter Mann, was wollt Ihr?
Das war Antwort genug. Sie waren entdeckt worden.
Angriff, befahl er seinen Begleitern, und sofort donnerten magische Energiewellen links und rechts von ihm in die Barrikade. Er selbst hielt sich zurück. Er wollte Varuschka nicht seine genaue Position verraten.
Wider Erwarten wurden die Magier jedoch nicht von Bogenschützen oder magischen Wellen angegriffen, sondern von Gewehrsalven empfangen.
„Götter“, dachte Gerbin „Natalie hatte recht – sie haben Waffen aus der anderen Welt!“ Jetzt war ihm auch klar, warum der Mann bei ihr war. Er musste Varuschka und ihre Leute im Umgang mit den Waffen geschult haben, denn das, was zurückkam, war treffsicher und wohlüberlegt. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Die Gewehrsalven und die Risse in der Barrikade, die von den magischen Angriffen hervorgerufen wurden, hatten den zusätzlichen Nachteil, dass sich der gespenstische rote Lichtschimmer auch vor das Tor hin ausweitete und Gerbin somit besser zu sehen war.
Inzwischen rückte jedoch auch Letho mit seinem Heer nach. Sie hatten es schwer, das Tor zu erreichen, denn die Gewehrsalven mähten sie nieder, sobald sie auch nur in die Nähe kamen. Ihre Rüstungen und Schilde, die für Bogenschützen ein Problem dargestellt hätten, waren für die modernen Waffen kein Hindernis. Die Luft war erfüllt vom Geruch nach Pulver und Tod, die Gewehrsalven donnerten in Gerbins Ohren und ließen ein latentes Pfeifen zurück.
Varuschkas Leute hatten alle Hände voll zu tun und achteten nicht auf ihn. Gerbin sandte ein Stoßgebet zu Tonan und sprintete los. Tatsächlich schaffte er es bis zum Tor, seine Fähigkeiten ließen ihn den richtigen Weg zwischen den Kugeln hindurch finden. Gerade als er sich fragte, wie er in die Festung gelangen sollte, öffnete sich das inzwischen von den magischen Wellen beschädigte Tor und spuckte ein Heer von unbedeutender Größe aus. Gerbin stockte der Atem. Es waren ausschließlich Bürger Kunningshorts!
Im Schatten der Barrikade wartete er, bis die letzten das Tor passiert hatten, dann gelang es ihm, ungesehen hindurchzuschlüpfen. Direkt neben dem Eingang befand sich eine Treppe, die zu der Plattform über dem Tor führte. Varuschka war noch dort, zusammen mit dem Mann aus der anderen Welt. Wie es schien, war es Gerbins Begleitern gelungen, sie in dem Glauben zu lassen, er befinde sich dort draußen. Er beeilte sich, nach oben zu gelangen. Vorsichtig lugte er über den Rand der Plattform.
Dort stand Varuschka zusammen mit dem jungen Mann und sandte Energiewellen auf das Schlachtfeld. Der Mann bediente ein Gewehr auf einem Gestell, welches unaufhörlich Munition abfeuerte. Dabei war es ihm egal, ob er die Feinde oder die eigenen Leute traf. Er hielt einfach mitten auf das Schlachtgeschehen.
Da seid Ihr ja, alter Mann!
Gerbin seufzte. Seine Annahme war falsch gewesen.
Noch bevor sie sich umdrehen konnte, schleuderte er seine Energie nach ihr, doch sie schien damit gerechnet zu haben. Er fegte den Mann von den Beinen, sie geriet ins Straucheln. Dennoch schien sie überrascht ob seiner Stärke, hatte sich jedoch schnell gefangen und stellte sich ihm entgegen.
Gerbin ging langsam auf sie zu. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass der Mann sich aufrappelte und wieder seiner Schusswaffe zuwandte. Er schwenkte sie jetzt auf dem Gestell zu ihm hinüber. Schnell setzte er ihn mit einer weiteren Welle außer Gefecht, verlor dabei aber kurz die Aufmerksamkeit für Varuschka, die nun ihrerseits auf ihn zukam.
„Alter Mann, geht nach Hause!“ Um ihre Finger tanzten rote Flammen, die sie Gerbin entgegen schleuderte. Schnell schuf er einen Schutzschild, hinter dessen blauem Lichtschild er sich Varuschka näherte.
„Ihr steht Eurer Mutter in nichts nach“, rief er. „Genauso schön, genauso grausam. Und genauso dumm …“
Varuschka lachte und warf ihm erneut ihre energiegeladenen Flammen entgegen.
Gerbin fiel es zunehmend schwer, seinen Schutz aufrecht zu erhalten. Er hoffte, sie würde nicht merken, wie sehr ihn das alles anstrengte. Sie war noch stärker, als er vermutet hatte. Er musste seine Strategie ändern. Fast hatte er sie erreicht.
Doch dann tat er etwas, womit sie überhaupt nicht gerechnet hatte.
Mit einer flinken Bewegung zog er sein Schwert und schlug ihr den hübschen Kopf ab.
Ein langgezogener Schrei riss Keiran aus seiner Lethargie. Es klang unmenschlich, und doch wusste er sofort, wer ihn ausgestoßen hatte. Magna. Irgendetwas musste passiert sein. Magna verlor selten derart die Kontrolle über sich. Keiran hoffte, dass es etwas Gutes zu bedeuten hatte.
Tobias war verwirrt. Um ihn herum tobte ein Kampf, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Er befand sich auf einer hölzernen Plattform, halb hing er auf einem MG, welches auf einen alten Mann mit langen weißen Haaren und nachtschwarzem Umhang, den er über einer Rüstung trug, ausgerichtet war. Dieser hatte ein blutiges Schwert in der Hand und sah ihn bedrohlich an. Was tat er hier? Und wer war das? Er versuchte sich zu erinnern.
Da war dieser Mann gewesen, der aussah wie ein Vampir und der ihn zu Natalie bringen wollte. Stattdessen hatte er ihn aber zu einer dunkelhaarigen Schönheit mit schwarzen Haaren gebracht, seiner Schwester, wenn er sich richtig erinnerte. Das war alles, was er noch wusste. Und jetzt war er hier.
„Wo – wo bin ich? Und wer seid Ihr?“
Der Grauhaarige ließ das Schwert sinken und sah ihn erschöpft an. Hatte er gegen ihn gekämpft? Tobias starrte auf sein MG und sicherte es vorsichtshalber. Vielleicht war der Mann ja gar kein Feind, jedenfalls sah er im Moment nicht so aus, als wolle er mit ihm kämpfen.
„Mein Name ist Gerbin. Ich bin der Oberste Magier von Grüenlant. Und wer seid Ihr, junger Mann?“
„Mein Name ist …“ Wie hieß er doch gleich? „… Tobias Werner. Wo um alles in der Welt bin ich hier?“
Da fiel es ihm wieder ein. Das Tor! Der Mann hatte ihn mit durch die Wand in der Höhle genommen, so wie Natalie zuvor mit diesem Typen verschwunden war! Und jetzt war er hier, um sie zu suchen und diesem Keiran eine zu verpassen. Der Vampir hatte ihn hereingelegt. Der hatte ihm versprochen, ihn zu Natalie zu bringen, und dann hatte ihn seine Schwester verzaubert und von da an wusste er nichts mehr.
„Wo ist Natalie?“
„Natalie? Ja, richtig, Ihr seid ihr – Kampfgefährte.“ Der alte Mann sah ihn zerstreut an.
„Ihr – was? Wo ist sie? Was wissen Sie von ihr?“, entgegnete Tobias ungeduldig.
Der alte Mann – Gerbin – sah ihn forschend an, als überlege er, ob er ihm trauen könne. „Ich mache mir Sorgen um sie“, erläuterte Tobias deshalb. „Ich – ich mag sie sehr gern und möchte nicht, dass ihr etwas zustößt.“
Gerbin rieb sich das Kinn. „Nun ja, also … ich bin ihr Vater.“
„Ihr Vater?“ Tobias war erstaunt. Soviel er wusste, hatte Natalie überhaupt keinen Vater, jedenfalls war nie einer da gewesen.
„Ja, das ist etwas kompliziert. Ich erkläre es Euch später.“
„Und wo ist sie jetzt?“ Tobias konnte es immer weniger erwarten, sie wiederzusehen. Dass um ihn herum der Schlachtenlärm tobte, nahm er nicht zur Kenntnis.
„Auch das ist etwas kompliziert. So genau weiß ich das nicht. Sie müsste gerade unterwegs nach Vârungen sein, um … um … nun ja, sie hat es sich in den Kopf gesetzt, ihren … ihren … Keiran Lasalle zu befreien.“ Gerbin fiel die Antwort sichtlich schwer und er rang um Worte.
Tobias wurde zornig. Was lief hier ab? Schon wieder dieser blöde Kerl! Was hatte der bloß mit Natalie angestellt?