Das Erbe von Grüenlant. Band 3: Schwarzes Land. Christina Kunz
Plötzlich fiel es mir ein. Die verschwundene Waffenlieferung! Magna brauchte jemanden, der ihr dabei half, die Technologie zu verstehen und sie richtig zu gebrauchen. Und indem sie meinen Freund für sich gewann, schadete sie mir zusätzlich. Aber Tobi – warum um alles in der Welt sollte er sich darauf einlassen?
Es nutzte nichts, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Wenn meine Vermutung stimmte, war er bei dem Heer an der Küste zu finden. Ich hoffte nur inständig, dass er keine Dummheiten machte oder sich gar in Lebensgefahr begab.
„Halt – wer da?“ Mallister saß aufrecht, aufgeschreckt durch ein Geräusch, aber Gertrud beruhigte ihn gleich wieder. „Keine Angst, das sind Natalie und Gernot.“ Tatsächlich schälten sich die beiden kurz darauf aus dem Nebel.
„Die andere Seite ist sauber. Wir sollten uns hier etwas ausruhen und morgen weiterreiten. Wir sind alle erschöpft.“ Gernot ließ sich neben Mallister nieder. Die beiden Späher erwähnten wir nicht.
„Wir haben etwas entdeckt.“ Natalie erzählte von ihrem Fund. Mallister wurde hellhörig. „Ist das der Tobi, von dem du uns erzählt hast? Dein Freund?“
„Genau der.“
Mallister besah sich den Dienstausweis und drehte ihn in den Fingern.
„Oh–oh Natalie, du stehst Keiran in Blindheit in nichts nach … Was glaubst du wohl, was der hier will?“
Ich konnte nicht umhin, über Mallisters Bemerkung nachzudenken. Ich – blind? Was meinte er damit? Doch nicht etwa, dass Tobi – dass Tobi etwas für mich empfand? Das war nicht möglich, wir kannten uns schon so lange! Und wenn es so wäre – warum hatte Tobi dann nie etwas gesagt?
Zugegebenermaßen hatte ich noch nie wirklich über eine solche Option nachgedacht. Klar hatte ich hin und wieder seinen muskulösen Körperbau bewundert und gerne mit ihm geflirtet, aber es war nie darüber hinausgegangen.
Vielleicht hatte Mallister auch einfach nur Unrecht.
Tobi war schließlich mein Freund, und Freunde standen einander bei.
So musste es sein.
Ich wischte den Gedanken beiseite.
Dennoch sorgte ich mich weiter darum, was mit Tobi geschehen sein konnte.
Am nächsten Tag ritt die kleine Gruppe weiter. Die Pause am Tor hatte den Nicht-Magiern etwas Erholung verschafft, die absolute Blindheit in dem undurchdringlichen Nebel hatte ihnen sehr zu schaffen gemacht. Insbesondere Mallister wurde zunehmend gereizt, aber auch Mina und Hekon waren fahrig und nervös.
Ich hatte Mallister meinen blauen Kristall überlassen, in der Hoffnung, er würde ihm etwas helfen. Dennoch wurde er nach kurzer Zeit schon wieder unruhig. Auch ich selbst fühlte eine zunehmende Befangenheit, leichte Spinnenfinger wanderten meinen Nacken empor und ließen einen kalten Schauder zurück. War der Nebel auf Vârunger Seite noch gefährlicher als auf der Grüenländischen? Und wenn ich das schon spürte – um wie viel schlimmer musste es dann den Nicht-Magiern gehen? Vielleicht hätte ich wirklich vorher einen Gedanken daran verschwenden sollen, warum nie jemand diesen Weg genommen hatte.
Es nutzte nichts. Jetzt waren wir hier, es gab kein Zurück mehr.
„Habt ihr das gesehen? Dort hinten, im Nebel!“ Panisch zuckte Mallisters Kopf hin und her.
„Da ist nichts! Deine überreizten Sinne spielen dir einen Streich“, versuchte Gernot den Freund zu beruhigen.
„Doch, doch, da ist – eine Gestalt! Das … das muss der Herrscher über den Blinden Fleck sein, er begleitet uns die ganze Zeit! Und ich glaube nicht, dass es ihm gefällt, dass wir hier einfach so durch sein Gebiet reiten, ohne ihm die nötige Ehre zu erweisen.“ Sein Herz begann wild zu klopfen. Ganz deutlich sah er eine bedrohliche Figur durch die Nebel auf sich zukommen, es war ein alter Mann mit einem mächtigen grauen Rauschebart und einer goldenen Krone auf seinem Kopf, die mit edlen Diamanten bestückt war. Sein weißes Gewand war golddurchwirkt und in der Hand hielt er ein Zepter, welches er Mallister bedrohlich entgegen schwenkte.
„Noch einmal: Da ist nichts, nur Nebel“, sprach Gernot sehr bestimmt an Mallister gewandt.
Mallister bekam jedoch Unterstützung von Mina. „D-doch! Da sind viele! Aber sie tun uns nichts, sie tanzen nur. Das ist wunderschön anzusehen. Sie tragen goldene Gewänder. Schaut doch!“
Mina war ganz verzückt bei dem Anblick der tanzenden Elfen. Ihre goldenen Gewänder glitzerten wie Tau und ihre filigranen Gliedmaßen wiegten sich anmutig zu einer wunderschönen Melodie, die Mina in ihren Bann zog. Sie wurde magisch angezogen von dem Reigen, und als die Elfen auf sie zu tanzten, um sie in ihre Mitte zu nehmen, wäre sie bereitwillig mitgegangen, wenn nicht Natalie sie daran gehindert hätte. Sie war dicht neben sie geritten und hatte ihr die Hand auf den Arm gelegt, ihr dabei etwas von ihrer Magie gegeben. Das hatte ausgereicht, dass die Elfen sich zurückzogen und von Mina abließen. Sie seufzte enttäuscht.
„So harmlos sind die nicht! Das sind Soldaten, sie greifen uns an!“ Hekon zog sein Schwert und fuchtelte wild um sich. „Hilfe, so helft mir doch, es sind einfach zu viele!“ Es war eine Totenarmee, gespenstische Knochenmänner in edlen Rüstungen, von denen immer mehr und mehr dem dampfenden Erdboden entstiegen. Sie formierten sich und schickten sich an, die Gruppe anzugreifen. Hekon drehte fast durch. Gertrud und Gernot redeten beruhigend auf ihn ein. „Da ist nichts. Niemand tut dir etwas. Steck dein Schwert weg, bevor du noch jemanden von uns verletzt!“ Gertrud gelang es letztendlich, ihn zu überzeugen.
„Was ist denn nur los mit euch?“ Gernot wirkte merklich irritiert. „Hier ist weit und breit niemand – nur Nebel. Und der tut uns nichts.“ Trotzdem schwankte seine Stimme leicht und er sah sich beunruhigt um.
„So leicht solltest du das nicht nehmen. Es hat seinen Grund, warum niemand, und schon gar kein Heer, durch den Blinden Fleck reist. Uns schützt unsere Magie, aber die anderen sind ihren Fantasien schutzlos ausgeliefert.“ Gertrud sprach sehr eindringlich, dann flüsterte sie: „Das kann zum Wahnsinn führen! Manch einer hat sich deshalb schon in sein Schwert gestürzt oder seine Freunde getötet.“ Und ergänzte: „Auch wir Magier sollten vorsichtig sein.“
„Ja“, pflichtete Natalie ihr bei, „ich fühle es auch. Was können wir tun?“ Sie war sichtlich betroffen. „Wir müssen doch irgendwas tun können!“
Gernot sah die beiden Frauen mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an und rutschte unbehaglich im Sattel hin und her. Er nahm die Sache ganz und gar nicht leicht, wollte die Freunde aber nicht beunruhigen. Es war seine Pflicht, Ruhe zu bewahren. Er hoffte, es würde ihm gelingen.
„Wir müssen sie mit unserer Magie schützen. Natalie, du nimmst Mina mit auf dein Pferd. Mallister geht zu Timmon und ich – ich reite mit Hekon. Gernot übernimmt die Führung.“
Gertruds Vorschlag wurde sofort einstimmig angenommen. Im dichten Nebel suchten und fanden sich die Freunde, auch wenn Mallister sich weigerte, vom Pferd zu steigen, um nicht dem König des Blinden Flecks zum Opfer zu fallen.
Schließlich stieg Timmon ab und ging zu Mallister, während Natalie Mina zu sich holte, da Isolde kräftiger war als Minas Stute. Die nun unbeladenen Pferde führten sie hinter sich her. Mallister hielt Natalies Kristall fest umklammert, aber erst, als Timmon ihm die Hände auf die Schläfen legte, fühlte er sich etwas besser und schloss erschöpft die Augen.
Hekon ging es gleich besser, als er mit Gertrud zusammen auf dem Pferd saß. Wenn diese absurde Situation es mit sich brachte,