ERDBEERMUNDALLERGIE. Inka Neumarkt

ERDBEERMUNDALLERGIE - Inka Neumarkt


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ihr heute Nachmittag entgegengesprungen war. Nichtsahnend hatte sie die Tür des Wohnmobils aufgerüttelt und dahinter einen nackten Hintern erblickt, der sich so ungelenk auf und ab bewegte, dass sie im ersten Moment hatte lachen müssen. Bis sie begriff, was dort eigentlich geschah. Bis sie die Tätowierung erkannte, von der sie Arielle, dieser Schlampe, einst eindringlich abgeraten hatte. Im Grunde hätte sie spätestens damals im Morbid-Ink-Studio begreifen sollen, dass mit Arielle etwas nicht stimmte. Man sollte keinem Menschen trauen, der sich eine rote Trickfilm-Krabbe auf den Hintern tätowieren ließ.

      Der Molch und der Lurch, die schwimmen bloß durch … sang Marge ganz leise. Tränen tropften ihr auf die Hände. Jetzt flennte sie schon wieder, weshalb sie beinahe das Schild übersah. Im letzten Moment erkannte sie den Wegweiser, der nicht mehr ganz frisch wirkte, aber gerade noch glaubwürdig, und auf eine Jugendherberge mit angeschlossenem Campingplatz hinwies.

      Es gelang ihr, auf den Weg abzubiegen. Mit wachsender Skepsis folgte sie dem rumpeligen Feldweg, bis irgendwann ein großer Parkplatz erschien. Vor einem flachen, sehr langen Gebäude. Oder breit? In jedem Fall versperrte der grundsätzlich weiße Flachbau den Blick auf alles, was wohl dahinter lag. Felder, vermutete Marge, gefolgt von Feldern, und dann gab es sicher noch Felder. Anmeldung, stand über einer der Türen.

      Marge parkte. Außer ihr stand niemand auf dem Platz. In der Mitte der blass-rosa gepflasterten Fläche stand ein Rollcontainer für Hausmüll.

      Mit etwas zittrigen Beinen stieg Marge aus ihrem Gefährt, ging langsam über den Parkplatz zur Anmeldung. Über einem Tresen stand noch einmal Anmeldung, auf dem Tresen lagen Kugelschreiber, eine Tageszeitung und Bonbonpapier, hinter dem Tresen war niemand zu sehen.

      Marge rief laut Hallo, dann lauter Guten Abend. Sie wartete ab, rief noch ein paarmal, und war gar nicht böse, dass niemand auf sie reagierte. Müde trottete sie über den Platz, der ein wenig wie ein Fährterminal wirkte, stieg in den Wohnbereich des Mobils und schloss die Tür.

      Kapitel 2

      Ein Schrei hallte über den blass-rosa gepflasterten Parkplatz, brachte beinahe den Restmüllcontainer zum Rollen, prallte gegen die Fenster der Jugendherberge. Das Kind sollte so etwas wirklich nicht sehen. Es wollte doch nur – ja, was eigentlich?

      Da stand dieses riesige Wohnmobil vollkommen schief vor der Herbergstür, als ob es niemandem gehörte, und es hatte einfach nur mal geguckt, ob sich die Tür vielleicht öffnen ließe. Es hatte doch einfach nur geguckt.

      Und dann hatte sich die Tür ganz einfach öffnen lassen.

      Niemand hätte doch vorhersehen können, welch schrecklicher Anblick sich dahinter bot.

      Quer über einen umgestürzten Hocker, der beinahe die Tür blockierte, lag eine reglose Gestalt, die Beine waren seltsam nach oben gedreht, ein Arm hing zur Seite, der andere war ausgestreckt, als hätte die Person, die dort lag, noch mit letzter Kraft versucht, aus dem Wagen herauszukommen.

      Eine Frau, dachte das Kind, und sah die langen, zerzausten Haare, den hellblauen Pullover, der ganz eng am Hals saß. Eine tote Frau.

      Dann würgte das Kind, denn der Geruch, der aus dem Inneren des Campers herauswaberte, war widerlich.

      Was war das?

      Das Kind, vielleicht war es zehn oder elf Jahre alt, konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Widerliches gerochen zu haben, eine Mischung aus Klo und Schweiß und Alkohol und irgendetwas Unbekanntem. Selbst mit dem Tuch der Jugendgruppen-Uniform, das es sich zum Schutz vor die Nase hielt, konnte es immer noch etwas riechen.

      Als es spürte, wie sich Hände auf seine Schultern legten, schrie es gleich noch einmal auf. Da drang eine resolute Stimme an das Ohr des Kindes.

      »Anna-Sophie«, mahnte jemand, »Anna-Sophie, du musst dich beruhigen.«

      Also gut, wenn sie das musste. Sie räusperte sich, noch einmal, zog ihr Tuch von der Nase, schob es am Hals zurecht.

      »Na, geht doch.«

      Geht gar nicht, wollte das Mädchen sagen, aber es hatte keine Lust auf eine Rede von Frau Gnesebeke, ihrer Gruppenleiterin, in der sicher solche Wörter wie Verantwortung, Vorbildfunktion und Contenance vorkommen würden.

      Diese Reden waren immer sehr lang. Frau Gnesebeke kam bei diesen Grundsatzreden immer sehr nah an einen heran. Dann roch man ihre Zigaretten, die sie heimlich rauchte. Glaubte sie wirklich, das fiel nicht auf?

      Die Leiterin hatte also die Hände in Anna-Sophies Schultern gekrallt und nahm selbst erst jetzt wahr, was da vor ihr lag. Wie sollte sie mit dieser Situation umgehen? Gab es Anweisungen dafür? Sie war gerade mit ihrer Gruppe auf einer Wanderung.

      Langsam, ohne die Hände von der Schulter des Mädchens zu nehmen, blickte Frau Gnesebeke sich um. Sie musste ihre Gruppe doch beisammen halten. Aber da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Hinter ihr hatte sich inzwischen die gesamte Jugendgruppe versammelt. Jemand hatte horrorfilmreif geschrien, da müsse man hin. Zum Glück hatte sie das Handy-Verbot durchgesetzt.

      Mit weit aufgerissenen Augen und Mündern starrten alle ins Wohnmobil. Auf die reglose Frau. Auf die strähnigen, dunklen Haare, den Kopf, der von der Bank herabhing. Auf den verzweifelt ausgestreckten Arm, die seltsam verrenkten Beine, die Hose, die etwas herabgerutscht war.

      »Iihh, guck mal, ich kann den Po von der Toten sehen.«

      »Äh, du bist ja ein perverser Spanner …«

      »Was denn? Ich kann doch nichts dafür, wenn ich das sehen kann.«

      »Wieso ist die denn tot?«

      »Ist doch gar nicht klar, ob die tot ist.«

      »So, wie das hier stinkt, ist die schon seit Wochen hinüber.«

      »Jetzt reißt euch gefälligst zusammen!«

      Anna-Sophie stöhnte erleichtert auf, als Frau Gnesebeke die Hände von ihren Schultern nahm. Sicher würde sie dort blaue Flecken bekommen.

      »Contenance!«

      Ein Raunen waberte durch die Gruppe. Da passierte endlich mal was wirklich Aufregendes, und sie sollten sich zusammenreißen?

      »Wir haben eine gewisse Verantwortung, auch aufgrund unserer Vorbildfunktion. Wir werden jetzt also in Ruhe darüber nachdenken, wie wir mit dieser Situation umgehen.«

      Alle sahen weiterhin in das Wohnmobil hinein, unverändert lag dort der seltsam verdrehte Körper, doch durch die Rede ihrer Gruppenleiterin, die so vertraut, so üblich und öde klang, hatte der Anblick ein wenig seinen schaurig-schönen Reiz verloren. Nun dachte man ernsthaft darüber nach, was zu tun war und in welcher Reihenfolge.

      »Polizei rufen?«

      »In der Herberge Bescheid geben?«

      »Rettungswagen?«

      »Oder Mund-zu-Mund-Beatmung?«

      »Hä? Dafür ist es ja nun wirklich zu spät. Die ist doch so was von hin!«

      Alle nickten. Da war nichts mehr zu machen. Und diese Erkenntnis beruhigte seltsamerweise. Das war wirklich gruselig und aufregend und man würde sehr lange eine sehr gute Geschichte erzählen können, aber ganz sicher konnte einem hier nichts Schlimmes passieren. Niemand war in Gefahr.

      Da hob die tote Frau ihren Kopf, riss ihre Augen auf und gab einen seltsam gurgelnden Laut von sich. Frau Gnesebeke und ihre Pseudo-Pfadfinder stoben vor Schreck auseinander, liefen so schnell über den Parkplatz, in Richtung Feld, Wald und Wiese, dass jeder von ihnen nachträglich eine Ehrenurkunde dafür erhielt.

      Niemand bekam mehr mit, wie Marge in hohem Bogen auf den Parkplatz kotzte und dann die Tür zuknallte.

      Jetzt wurde sie richtig verrückt, oder?

      Wenn man einen Haufen kleiner uniformierter Leute vor sich sah, waren das sicher die berüchtigten weißen Mäuse. Sie blieb reglos liegen, ihr Magen rumorte, hoffentlich musste sie


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