ERDBEERMUNDALLERGIE. Inka Neumarkt

ERDBEERMUNDALLERGIE - Inka Neumarkt


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suchen. Tabletten einwerfen. Einen Zentner. Mindestens.

      Das hatte sie echt super hinbekommen. Was hatte sie sich dabei gedacht? Okay, blöde Frage. Und jetzt halluzinierte sie also Pfadfinder herbei. Wobei die vielleicht sogar echt sein könnten. Gestern war sie doch auf dem Parkplatz einer Jugendherberge gestrandet. In solchen Gegenden trieben sich Jugendgruppen für gewöhnlich herum.

      Verdammt. Ihr Schädel würde gleich platzen. Den großen Auftritt mit Jugendgruppe hatte sie sich noch bis gestern Mittag irgendwie anders vorgestellt. Auch erfreulicher. Bis dahin waren die Vorbereitungen für den Auftritt ihrer Jugendschreibgruppe großartig gelaufen. Eine Gruppe, die sie anleitete, weil Clemens, der Arsch, ihr das an Herz gelegt hatte. Er habe da ein so schönes Projekt für sie entdeckt, einfach goldrichtig für sie. Eine Patientin habe davon erzählt, und sofort, sofort!, habe er an sie, Marge, seine wunderbare, begabte, künstlerische Ehefrau gedacht. Wie gut diese Arbeit zu ihr passen würde!

      In Wahrheit hatte er da bloß an Arielle, diese Schlampe, gedacht, und wie gut es ihm passen würde, wenn seine dämliche, vollblinde Ehefrau anderweitig beschäftigt wäre.

      Die Schreibgruppe war für Kinder aus sogenannten schwierigen Verhältnissen geplant. Sie hasste diese Kategorisierungen, diesen Gutmensch-Rassismus, hatte also gesagt, sie leite entweder ein Schreib-Projekt für alle Kinder, die Lust dazu hätten, oder keines.

      Das wäre dann aber kompliziert mit den Fördergeldern. Ach …? Man wolle ja denen helfen, die sich das nicht leisten können. Dann bezahlten die anderen in der Gruppe eben Geld dafür, wo sei bitte das Problem, hatte sie erwidert. Dann bekäme man nichts mehr aus dem Fördertopf, den man dafür im Auge habe.

      Es war noch eine Weile so unverständlich hin- und hergegangen, bis sie ihrem Mann gesagt hatte, er werde jetzt ein Schreibprojekt für Kinder unterstützen, und er hatte gesagt: Fein. Und wenn sie jetzt darüber nachdachte, dass sie das für eine nette Geste gehalten hatte, kam ihr wirklich nochmal alles hoch.

       Einundzwanzig, atmen, zweiundzwanzig, atmen.

      Er hatte einen ganzen Schreibkurs finanziert, um ungestört pimpern zu können. Wenn das mal keine gute Geschichte war.

      Die Arbeit selbst hatte ihr wirklich gefallen. Die Kinder waren großartig, hatten Spaß am Schreiben und waren irrwitzig kreativ. Wenn man auch keine Lieblingsschüler haben soll, gab es da trotzdem einen Jungen, der irrsinnig gute Geschichten schrieb. Lasse hatte ein besonderes Talent. Ihn förderte sie vielleicht immer ein bisschen mehr. Und durch ihre Arbeit hatte sie Menschen kennengelernt, die sie sonst nicht unbedingt getroffen hätte.

      Verdammt. Es kam ihr doch wieder hoch, sie merkte, dass da noch einiges war, was rausmusste.

      Sie atmete durch, sah sich vorsichtig um.

      Hatte sie dieses Chaos wirklich allein angerichtet?

      Sie würde ja erneut kotzen wollen. Aber dafür war hier einfach kein Platz.

      Ächzend schob sie sich in die Ecke der Sitzbank, stellte ein Kissen neben sich auf. Hielt das Kissen gut fest. Hielt es sehr gut fest. Zog die Knie an. Dumme Idee. Mit zusammengebissenen Zähnen streckte sie die Beine auf der Bank ganz langsam aus.

      Nachdem sie gestern hier gelandet war, hatte sie die Schränke zunächst nach etwas Essbarem abgesucht. Also schön, ganz zuerst nach etwas Trinkbarem, aber wer hätte ihr das verdenken wollen? Wenn ihr Mann dieses Gefährt als Liebesnest eingerichtet hatte, musste es auch irgendwo Sekt geben. Das gehörte schließlich zum klassischen Verführungsrepertoire dazu, das war ein Gesetz, und bestimmt kein ungeschriebenes, ganz sicher stand das in Dating-Ratgebern oder Frauenzeitschriften. Gut. Nach dem Sekt musste sie dann auch nicht lange suchen. Er stand, wo er hingehörte: im Kühlschrank. Eine geöffnete Flasche, zur Hälfte geleert, verschlossen mit dem Sektverschluss, den sie vor Jahren beim Räumungsverkauf eines Haushaltswarengeschäfts gekauft und seitdem nie wiedergefunden hatte.

      So lange lief die Geschichte schon zwischen den beiden? Zornig hatte sie eine andere Flasche aufploppen lassen. Sie würde doch nicht die Reste des Pärchens ablecken. Marge trank direkt aus der Flasche, hielt sie in der Hand, während sie alle Türchen öffnete, alle Fächer durchsuchte. Sie fand rasch, was man in so einer Situation brauchte: Kartoffelchips, Salzkräcker und Rosinen in Schokolade. Dummerweise neben den Dingen, die sie überhaupt ganz und gar nicht hatte finden wollen: ein rotes Spitzenhöschen, an der Seite eingerissen, als habe man es im heißen Liebesspiel ungeduldig vom Körper gerupft. Prost! Ein Massageöl mit Vanille-Sandel-Duft, für sinnliche Stunden. Darauf trink ich! Eine Augenmaske mit dem winzigen Schriftzug: Oh! Cheers!

      Als Marge dann auf die Großpackung super-gefühlsechte Kondome gestoßen war, in der nur noch eins drin war, hatte sie die leere Sektflasche in irgendeine Ecke geworfen und den Verschluss von der anderen genommen. Das war das Ding, wie ihr nun auffiel, was ihr gerade gegen den Fußknöchel drückte. Sie kickte es von der Bank. Und stöhnte.

      Da hatten Clemens, der Arsch, und Arielle, diese Schlampe, hier jahrelang Bettgymnastik betrieben, und sie konnte sich schon nach einer wilden Nacht in diesem Ding nicht mehr rühren. Pffhhh…

      Genau dieser Armseligkeit war sie sich gestern bewusst geworden, als sie versucht hatte, auf das obere Bett zu steigen. Weil sie nämlich wieder heruntergefallen war. Und um sich einzureden, dass sie sowieso nur deshalb auf dem Fußboden saß, weil sie unbedingt den unteren Schrank noch einmal durchsuchen wollte, hatte sie genau das getan, und da hatte sie die Flasche Korn entdeckt. Das hatte sie kurz verwirrt, denn das entsprach so gar nicht dem Geschmack ihres Mannes. Gut, sie hatte auch angenommen, Arielle, diese Schlampe mit den künstlichen Brüsten und den künstlichen Wimpern und diesem künstlich aufgepumpten Erdbeermund wäre nicht sein Geschmack. Was sie alles nicht wusste. Nach 27 Jahren Ehe. Und was sie alles vermisst hatte.

      Beim Öffnen hatte der Verschluss der Kornflasche geknackt. Nach dem ersten Schluck hatte sie sich geschüttelt, denn das Zeug war wirklich sehr ekelhaft, und mit tränenden Augen hatte sie die Flasche angeschaut und den Aufkleber des Wohnmobil-Händlers darauf entdeckt. Und mehr Erinnerungen hatte sie eigentlich nicht an den Abend.

      Herrje, war ihr flau. Sie sah zur Toilette. Sah schnell wieder weg. Sie musste dringend aus diesem Chaos raus. Und eine echte Dusche wäre jetzt großartig.

      Zumindest fand sie schnell die lebensnotwendigen Kopfschmerztabletten. In dieser Hinsicht war auf ihren Mann wenigstens Verlass: Sobald er sich auf einen Aufenthalt einrichtete, der länger als sieben Minuten dauerte, platzierte er in Griff- und Sichtweite eine voll ausgestattete Heim-Apotheke.

      Sie nahm einen Blister Schmerztabletten heraus. Die würde sie irgendwo da draußen einnehmen müssen, denn sie hatte kein Wasser. Also kein Wasser, von dem sie wusste, ob sie es trinken konnte oder nicht. Sie hatte wirklich nicht die geringste Ahnung, was es mit dem Prinzip Wohnmobil auf sich hatte. Seit dem Drama im Teutoburger Wald hatte sie es nicht mehr betreten. War wohl auch nicht nötig gewesen.

      Sie brauchte einen Moment, um den Gedanken zu verdrängen, dass ihr Mann jemanden gefunden hatte, der sich in diesem Ding beim Vögeln nicht die Hüfte verrenkte. Ja, es gab Gedanken, die das Selbstbewusstsein stärkten – und eben solche.

      Schnaubend öffnete sie die Tür und ging auf den Parkplatz. Oje, wo war sie hier bloß gelandet. Außer ihr schien sich niemand in diese Gegend verirrt zu haben, wenn man einmal von den Pfadfindern absah. Wenn die denn echt gewesen waren.

      Sie ging auf das Gebäude zu, das ihr gestern Abend schon wie eine Rezeption vorgekommen war, daran erinnerte sie sich, und diesmal saß tatsächlich jemand hinter dem Tresen.

      »Wollen Sie etwa da stehen bleiben?«

      Der Tonfall war nicht unfreundlich, aber besonders einladend wirkte so ein Satz auch nicht gerade. Außerdem verstand Marge nicht genau, worauf der Mann hinter dem Tresen hinauswollte. Aber er sah verdammt gut aus. Sinnloserweise strich sich Marge ihre strähnigen Haare hinter die Ohren.

      »Meinen Sie hier?« Sie zeigte auf den Platz zu ihren Füßen.

      »Da.« Mit einem Nicken wies er nach draußen, und aus dieser ausführlichen


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