Falsches Spiel in Brodersby. Stefanie Ross
sich nachträglich. Er verstaute den Fund in der Tasche seines Windbreakers und setzte seinen Weg fort.
Der glänzende Stein erinnerte ihn an Schaima, eine etwas sonderliche Heilerin, die in der Nähe von Brodersby wohnte und praktizierte. Sie liebte Steine aller Art und würde vermutlich von einem Zeichen sprechen. Dagegen hatte er nichts. Im Gegenteil. Jan beschloss, den Fund als Glücksbringer bei der Klärung der Hintergründe des angeschwemmten Phosphors zu betrachten.
Obwohl er nach weiteren Bernsteinen – oder Phosphorbrocken – Ausschau hielt, wurde er nicht fündig. Dennoch war er in deutlich besserer Stimmung, als er schließlich umkehrte. Allmählich klarte das Wetter auf. Die dunklen Wolkenberge nahmen Konturen an und er konnte bereits hellere Bereiche entdecken. Als der Parkplatz in Sicht war, beschleunigte er das Tempo.
Den einsamen Spaziergänger in Höhe des Baumstamms beachtete er nicht weiter. Erst als er näher kam, stutzte er. Die Gestalt des Mannes hatte etwas Vertrautes, aber das war nicht möglich. Wenige Meter später korrigierte er sich. Es war möglich! Seine Laune erreichte schlagartig einen neuen Tiefpunkt. Das durfte doch nicht wahr sein! Der Mann hatte ihn offensichtlich ebenfalls erkannt, denn sonst würde er kaum so wirken, als würde er am liebsten fliehen. Nach so vielen Jahren trafen sie sich ausgerechnet hier an der Steilküste?
Jan blieb einige Meter vor seinem Vater stehen und wusste nicht, was er sagen sollte. Mit einem zufälligen Treffen hätte er niemals gerechnet. Eigentlich hatte er seit Ewigkeiten überhaupt nicht mehr daran gedacht, dass sie sich jemals wieder über den Weg laufen würden.
»Das ist eine Überraschung«, meinte Jan schließlich, als das Schweigen kein Ende nahm.
»Ist der Ort nicht ziemlich weit von Eckernförde entfernt?«, erkundigte sich sein Vater und verzichtete ebenfalls auf eine Begrüßung.
»Wieso Eckernförde?«, hakte Jan ratlos nach.
»Trainiert da nicht das KSK?«
Sein Vater wusste nicht, dass er die Bundeswehr verlassen hatte, aber dafür, dass er eine Zeit lang bei der Spezialeinheit im Einsatz gewesen war. Wie passte das zusammen? Ihr Kontakt war abgebrochen, nachdem er das Medizinstudium an der Bundeswehruni begonnen hatte, und außer Liz wusste niemand, dass er zum Kommando Spezialkräfte gehört hatte.
»Ich habe in Brodersby eine Arztpraxis«, erwiderte Jan und schenkte sich jede weitere Erklärung.
Einen Moment schien sein Vater fassungslos zu sein, dann schüttelte er den Kopf. »Merkwürdiger Zufall«, murmelte er leise.
»Finde ich auch. Machst du Urlaub in Schwansen?«
»Nein, ich bin geschäftlich hier. Und ich frage mich gerade, ob … Na egal. War nett, dich getroffen zu haben.« Ohne ein weiteres Wort wandte sich sein Vater ab und steuerte auf den Parkplatz zu.
Jan sah ihm erst nach, dann aufs Meer hinaus. Normalerweise wäre er zum Parkplatz gegangen, aber nun wartete er lieber, bis sein Vater weggefahren war.
So wenige belanglose Worte, nachdem man sich über fünfzehn Jahre nicht gesehen hatte? Wenn er jemals ein solches Nichtverhältnis zu seinem Kind haben sollte, dann würde er … Keine Ahnung … Nicht einmal in Gedanken brachte er den Satz zu Ende.
Während zwei Möwen im Tiefflug über die Ostsee jagten, schwor er sich, seinem Kind jede Freiheit bei der Berufswahl zu lassen, die überhaupt möglich war. Wenn sein Sohn Balletttänzer werden wollte, würde er ihn genauso unterstützen wie seine Tochter beim Auswahlverfahren der NASA. Hauptsache, sein Kind war glücklich. Alles andere interessierte ihn nicht. Er würde ihr Verhältnis nicht mit Ansprüchen oder Forderungen in Bezug auf die Berufswahl vergiften.
Kaum wurde ihm bewusst, was er sich gerade vornahm, da fiel ein Teil der Angst vor seiner zukünftigen Rolle von ihm ab. Er würde niemals die Fehler wiederholen, die sein Vater gemacht hatte. Das war sicher. Vermutlich würde er vieles falsch machen, aber nicht so viel wie der Mann, der heute wie ein Fremder für ihn war.
Rein äußerlich hatte sich Walter Storm nicht verändert. Das graue Haar, die blauen Augen, die deutlich heller als Jans waren, die relativ schlanke Gestalt, wie Jan es in Erinnerung hatte. Sein Vater schien weiter auf sein Gewicht zu achten, dennoch hatte er um die Taille etwas zugelegt. Auch die Falten um die Augen herum waren deutlich tiefer geworden. Jan schnaubte, als er bemerkte, dass er die Begegnung auf eine Beurteilung des Äußeren reduzierte.
Nach einem Blick auf seine Uhr kalkulierte er die Zeit, die er zum Duschen und für einen Kaffee mit Lena brauchte. Das müsste noch machbar sein.
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich in der Wohnung über seiner Praxis umzuziehen und dort zu duschen, aber er wollte seine Frau sehen. Jetzt! Obwohl er es nicht gerne zugab, erschütterte ihn das unpersönliche Treffen. Anscheinend hörte man nie auf, Kind zu sein und sich nach der Liebe und Anerkennung seiner Eltern zu sehnen. Da er es die letzten Jahre mühelos ohne seinen Vater ausgehalten hatte, würde es kein Problem sein, so weiterzumachen.
Sichtlich erstaunt kam Lena ihm im Flur entgegen. »Hey, ich freue mich ja, dich zu treffen, aber wolltest du nicht schon in der Praxis sein?«
Jan brummte eine Zustimmung und zog sie in seine Arme. »Wollte ich.«
Sie schob ihn etwas von sich weg und musterte ihn misstrauisch. »Was ist passiert?«
Er verzog den Mund zu einem vermutlich reichlich missglückten Lächeln. »Wie kommst du darauf, dass etwas passiert sein könnte?«
»Vielleicht weil ich dich kenne? Weil es dir auf die Stirn geschrieben steht – allerdings nur für deine einzigartige, dich über alles liebende Ehefrau lesbar! Geh duschen, ich mache dir ein schnelles Frühstück und einen Kaffee und sage Gerda, dass du einen Tick später da sein wirst.«
Genau das hatte er gebraucht. Ihm fiel das Lächeln schon leichter, als er sie küsste und ins Badezimmer eilte.
Bei einem Kaffee und Rührei, das Lena blitzschnell gebraten hatte, erzählte er ihr von der unerwarteten Begegnung.
Lena vergaß ihre Portion und starrte ihn an. »Das ist ja der Hammer. Sag mal, von eurem merkwürdigen Verhältnis, das ganz bestimmt nicht du zu verantworten hast, mal abgesehen: Was macht dein Vater ausgerechnet an der Steilküste? Ein touristisches Highlight ist das ja nicht gerade.«
Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, die Frage ist berechtigt. Meinetwegen ist er jedenfalls nicht hier. Er wusste nicht einmal, dass ich in der Nähe wohne.«
Lenas Augenbraue wanderte in Zeitlupe nach oben. »Entschuldige, dass ich das so direkt sage, aber besser keinen Opa als einen solchen Döschkopp! Da ist unser Sohn mit Jo und Helga als Ersatzgroßeltern viel besser dran.«
Jan schob sich den Rest Rührei in den Mund. »Erstens können wir immer noch eine Tochter bekommen und zweitens solltest du dich warm anziehen, wenn du Jo und Helga als ›Oma‹ und ›Opa‹ bezeichnest.«
Lena lachte und schob ihr restliches Rührei auf seinen Teller. »Nimm du, ich bin satt. Das ist so herrlich mit den beiden. Da haben sie so lange vergeblich darauf gewartet, dass sie Enkel kriegen, adoptieren in gewisser Weise vor der Geburt unser Kind, gucken aber wie eine Kuh, wenn’s donnert, wenn sie das Wort Oma oder Opa hören. Herrlich! Dabei haben sie mit über siebzig das richtige Alter dafür.«
»Kennst du die Geschichte, als sich Jo ein Bahnticket kaufen wollte und ihm gesagt wurde, dass es Sparmöglichkeiten für Senioren gibt?«
Prustend nickte Lena. »Er und Helga sind dann mit dem Wagen nach Hannover gefahren – so wie er es von Anfang an wollte.«
Jan grinste breit. »Ganz genau. Und zum Glück hat sich Helga nie gefragt, warum er die Tickets nicht einfach online gekauft hat. Ich wette, er hat geahnt, dass so etwas passieren würde.« Lena sah ihn spöttisch an und ihm dämmerte die Wahrheit. »Du meinst, sie weiß genau, was er da abgezogen hat?«
»Na logisch. Jeder kennt doch die Angebote der Bahn für die Generation sechzig plus, aber weil sie ihn liebt, hat sie ihm die Albernheit durchgehen lassen. Und nun sieh zu, dass du in die Praxis fährst. Du bist verdammt spät