Opfer ohne Gewissen. Lasse Blom
Widmung
Für Pippi Langstrumpf, die in diesem Jahr ihren
75. Geburtstag feiert
Zitat
„Ach, wie dumm du bist, Annika … Pippi lügt nicht richtig, sie tut nur so, als ob das, was sie sich ausgedacht hat, gelogen ist. Verstehst du das nicht, du Dummerjan?“
1
Er trat auf einen Zweig. Ein Elch schreckte auf. Das Tier war etwa 50 Meter entfernt. Es sah ihn an und rannte davon. Er hob seine Pistole und senkte sie wieder. Nein, er war nicht hier, um auf einen Elch zu schießen; schon gar nicht mit einer Pistole.
Er war hier, um einen Menschen zu töten.
Er blickte nach vorne und versuchte, sich im Wald zu orientieren. Wie weit war es noch bis zur Hütte? Einen Kilometer? Zwei Kilometer? Ohne Eile ging er weiter. Bald stand er vor seinem Ziel. Ruhig hob er die Pistole – er spürte keine Nervosität. Dann trat er die Tür ein und stand kurz darauf vor dem berühmten Rune Katt, der an einem Tisch vor dem Fenster saß und seelenruhig seine Pfeife stopfte.
„Du?“, sagte Katt, als er seinen Besucher sah, und blickte auf die Pistole.
„Ich wusste, dass irgendwann irgendjemand kommen würde, aber dass gerade du es bist …“
„Einer muss es tun“, sagte er und überlegte, ob der Satz klischeehaft klang. Oder ob es der einzig richtige war.
„Einer muss es tun“, wiederholte Katt und kniff die Augen zusammen, was ihn für einen Moment irritierte. Er hob die Pistole ein Stück höher, sodass sie direkt auf den Kopf des alten Mannes gerichtet war.
„Und jetzt?“, fragte Katt.
„Jetzt sagst du noch einmal die Aufstellung des AIK Stockholm von 1977 und dann drücke ich ab.“
Rune Katt lachte.
„Ich mochte deinen Humor schon immer“, sagte Katt. „Ich befürchte, dass nur der erste Teil des Satzes ein Witz ist und der zweite nicht – du wirst abdrücken.“
„Der erste Teil ist auch kein Witz“, sagte er. „Du wirst jetzt die Aufstellung sagen.“
„Warum?“
„Weil ich wissen will, ob du dich erinnerst. Ob du die Namen noch kennst. Oder ob du immer nur an dich gedacht hast.“
Der alte Mann überlegte einen Moment.
„Einverstanden“, sagte Katt schließlich. „Aber nur, wenn du mir danach eine Chance gibst, das hier zu überleben. In einem fairen Wettkampf unter Männern.“
Er senkte die Pistole.
„Was für ein Wettkampf?“, fragte er. Er schien eher belustigt als neugierig zu sein.
„Du bist über 20 Jahre älter als ich – welchen Wettkampf unter Männern willst du gegen mich gewinnen? Ich nehme an, es soll ein körperlicher sein.“
„Ein Elfmeterschießen“, sagte Katt, „draußen zwischen zwei Bäumen.“
Der Jüngere überlegte. Was für ein Schwachsinn, dachte er, ein Elfmeterschießen sollte über Leben und Tod entscheiden? Andererseits: Nirgendwo passte das besser als hier – und außerdem war er in seinem Leben immer für Verrücktes offen gewesen.
„Gut, aber eines musst du mir noch verraten“, sagte er zu dem Alten hinüber. „Warum sollte ich mich darauf einlassen, wo ich doch nur verlieren kann? Ich könnte dich jetzt umstandslos über den Haufen schießen – aber wenn ich das Elfmeterschießen verliere, muss ich dich laufen lassen. Also: warum?“
„Weil du kein Feigling bist“, sagte Katt, „und vor allem: weil du ein Spieler bist.“
Der Jüngere nickte.
„Du kriegst die Chance“, sagte er, „aber nur, wenn du die elf Stammspieler von AIK aus der Saison 1977 nennen kannst.“
Der alte Mann sah aus dem Fenster, dann begann er: „Gentemot Gunnarsson, Carl Nilsson, Sten Tyresson, Olof Hösten …“
Nachdem er zehn Spieler genannt hatte, sagte er: „… und im Tor: Rune Katt.“
„Wo hast du den Ball?“, fragte der Jüngere.
„Im Schuppen hinter der Hütte“, antwortete Katt. „Nicht weit entfernt davon gibt es zwei Bäume, die etwa sechs Meter auseinanderstehen – das sind die Torpfosten.“
„Und die Querlatte? Wie hoch dürfen wir schießen?“
„Komm mit, dann zeige ich es dir.“
Die beiden Männer verließen die Hütte. Der Jüngere ging hinter ihm und hatte seine Pistole auf Katt gerichtet. Katt ging zum Schuppen, öffnete die Tür, die nicht verschlossen war, und kam mit einem alten Lederball wieder heraus. Er warf ihn in die Höhe und fing ihn wieder auf.
„Vorsicht!“, rief der Jüngere und richtete die Pistole auf Katt. „Keine Bewegungen, die mich nervös machen könnten.“
Rune Katt grinste.
„Hast du Angst, du könntest verlieren?“, fragte Katt.
Er hatte tatsächlich Angst, er könnte verlieren.
Katt war zwar 73 Jahre alt und würde einen platzierten Schuss nie und nimmer erreichen können, obwohl er einmal der beste Torwart Schwedens gewesen war. Aber was war, wenn er es verpatzte? Wenn der Ball an den Pfosten ginge, also an den Baum? Oder vorbei. Er musste dieses Risiko reduzieren.
„Ich habe drei Schüsse, und zwei davon müssen drin sein“, sagte er.
„Der Herr hat also doch Angst“, sagte Katt und lächelte.
„Ich habe keine Angst, aber ein Schuss kann immer mal daneben gehen“, sagte er.
„So ist das Leben“, antwortete der alte Mann. „Ich dachte, du bist ein Spieler? Hopp oder top. Leben oder Tod. Ein Schuss. Ist er drin, darfst du noch mal schießen – mit der Pistole. Halte ich den Ball, haust du ab und wir sehen uns nie mehr wieder.“
Der Jüngere überlegte. Er wusste, dass dieser Rune Katt sein Leben lang Menschen manipuliert hatte. Aber er musste einräumen, dass er es überzeugend tat.
„Komm, das ist die ehrlichste, beste, spannendste Variante“, schob Katt nach. „Ein Schuss entscheidet über Leben und Tod.“
„Gut“, sagte der Jüngere, „wo ist das Tor?“
„Hier ums Eck“, sagte Katt und lief mit dem Ball in der Hand um die halbe Hütte herum. Der Jüngere sah, wie eine Stange in etwa zweieinhalb Metern Höhe die beiden Bäume verband. Die Querlatte. Katt hatte hier schon öfter Fußball gespielt.
„Es sind genau 2,44 Meter – wie bei einem richtigen Tor“, sagte Katt. Sogar ein weißer Kalkstreifen war zwischen den beiden Bäumen zu sehen: die Torlinie.
„Mit wem hast du hier schon gespielt?“, fragte der Jüngere.
„Och, es waren einige zu Besuch“, sagte Katt. „Aber bisher haben wir nur darum geschossen, wer den nächsten Schnaps