Opfer ohne Gewissen. Lasse Blom
grün für die Natur, gelb für die Sonne und blau für das Wasser.
„Habt ihr die Kugel nicht genau angeschaut oder kennt ihr die Farben der Sami nicht?“, fragte Munk streng.
Alle schwiegen.
„Es war meine Schuld“, sagte Selander schließlich. „Ich hatte mich auf die Homosexuellen festgelegt und das felsenfest vertreten – ich weiß gar nicht, ob sich die anderen die Kugel so genau angeschaut haben.“
„Du aber offenbar auch nicht“, sagte Munk. „Du kennst doch die Farben der Sami.“
Selander gehörte zu den Menschen, die sich als Bildungsbürger sahen und sich darauf etwas einbildeten. Er war belesen, er hatte zusammen mit seiner Frau ein Abonnement für die Oper und er las die Zeitung so intensiv, dass er zu jedem politischen Thema eine Meinung hatte. Natürlich kannte Selander die Farben der Sami. War er überarbeitet? Er blickte zu Boden.
„Was ist los mit dir, Halldor?“, fragte Munk. Diesmal war keine Schärfe in seiner Stimme, sondern Sorge.
„Entschuldigt mich bitte“, sagte der Hauptkommissar und verließ das Besprechungszimmer.
Die Polizisten sahen sich fragend an.
„So ist er schon seit ein paar Wochen“, sagte Grip zu Munk. „Aber er sagt nicht, was mit ihm los ist.“
„Ich weiß es auch nicht“, sagte Huskonen, auf den nun alle Blicke gerichtet waren. Huskonen war in etwa gleich alt wie Selander, also über 60, und hatte zu ihm das engste Verhältnis.
„Er blockt ab“, sagte Huskonen.
Munk stand auf und lief hinter Selander her. Er traf ihn in seinem Büro an. Selander blickte aus dem Fenster.
„Halldor“, sagte Munk.
Der Hauptkommissar reagierte nicht.
„Halldor, bist du krank?“
Selander drehte sich langsam um, er hatte Tränen in den Augen. Munk hatte Selander noch nie weinen sehen. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Ihn in den Arm nehmen? Undenkbar. Sie kannten sich lange, sie schätzten sich, sie mochten sich, aber es war immer eine Distanz zwischen ihnen geblieben.
„Meine Frau ist sehr krank“, sagte Selander tonlos. „Sie hat Krebs, sie wird nur noch ein paar Monate leben, wenn überhaupt.“
Selander war seit mehr als 40 Jahren verheiratet. Ulrika war seine Jugendliebe. Munk ging ein paar Schritte auf Selander zu, der mit hängenden Schultern am Fenster stand. Munk legte ihm die Hand auf die Schulter. Selander schloss die Augen. Beide schwiegen. Nach einigen Augenblicken löste sich der Hauptkommissar.
„Ich werde hier aufhören und die letzten Monate mit meiner Frau verbringen“, sagte Selander fest. „Du musst jetzt die Mordkommission leiten, Casper. Übergangsweise oder für immer. Ich weiß nicht, ob ich zurückkommen werde.“
Munk stand schweigend da. Er wusste, dass es keine Worte gab, die Selander trösten konnten, was die Krankheit seiner Frau anging. Aber er wusste, welche Worte Selander helfen würden, was die Mordkommission betraf.
„Ich werde dich vertreten, Halldor – so lange, bis du wieder bei uns bist. Jeder von uns will, dass du wieder zurückkommst.“
Selander machte ein paar Schritte auf die Tür zu. Er nahm die Klinke in die Hand und sagte: „Danke, Casper! Jetzt kann ich zu Ström gehen und ihn über die neue Lage unterrichten.“
Lasse Bosse Ström war der Polizeipräsident.
Munk blieb in Selanders Zimmer zurück. Er blickte aus dem Fenster, so wie Selander vor einigen Minuten aus dem Fenster geblickt hatte. Halldors Frau wird sterben, dachte er. Hätte er, Munk, fragen sollen, welchen Krebs sie hatte?
Ob es wirklich keine Hoffnung gab? Ob er irgendwie helfen konnte? Nein, wenn es Hoffnung geben würde, hätte Selander das gesagt. Es war so, wie er es gesagt hatte. Selander beschönigte nicht und er übertrieb nicht. Munk mochte das an ihm.
Und Selander helfen? Er half ihm, indem er seinen Job übernahm. Einen Job, den Munk nie haben wollte. Er war kein Chef, er wollte weder Mitarbeiter führen noch Verwaltungskram erledigen noch mit Vorgesetzten verhandeln. Er war ein Ermittler, manchmal ein eigensinniger, aber doch ein erfolgreicher. Er war ein guter Polizist, aber konnte er ein guter Chef sein?
Er ging zurück ins Besprechungszimmer, wo Leila Andersson, Kajsa Tapper, Per Henrik Grip und Jari Huskonen noch immer um den Tisch herumsaßen. Leila und Kajsa sprachen über den Fall, Huskonen redete mit Grip über Selander.
„Was ist mit ihm?“, fragte Huskonen, als Munk den Raum betrat.
Sollte er die Kollegen einweihen? Nein, das musste Selander selbst tun. Er würde sicher zu ihnen kommen, sobald er mit dem Polizeipräsidenten gesprochen hatte.
„Halldor hat ein sehr, sehr großes Problem“, sagte Munk. „Aber er wird es euch sicher gleich selbst sagen.“
Keiner sagte etwas. Aber allen war anzumerken, dass sie sich sehr, sehr große Sorgen machten wegen dieses sehr, sehr großen Problems. Selander war beliebt.
„Wir verteilen die Aufgaben“, sagte Munk schließlich.
„Wir haben bereits mit der Ex-Frau, der Tochter und Freunden geredet, wobei nichts herausgekommen ist“, sagte Leila. „Aber wir sollten jetzt dringend mit Katts letzter Lebensgefährtin sprechen – sie ist Sami. Und wenn die Kugel die Farben der Sami hat …“
„Hast du den Namen und die Anschrift der Frau?“, fragte Munk.
„Yep.“
„Wir fliegen morgen früh hin“, sagte Munk. „Die anderen machen hier mit Befragungen weiter – Nachbarn, frühere Mitspieler, Bekannte. Und geht ins Archiv, da findet man viele Artikel über Rune Katt. Vielleicht gibt es etwas in seiner Vergangenheit.“
Die Kollegen standen auf und verließen den Raum. Nur Jari Huskonen, der alte Kriminaltechniker, blieb sitzen.
„Halldor ist krank, oder?“, fragte er, als nur noch er und Munk im Besprechungszimmer waren. Munk überlegte einen Moment. Wäre es ein Vertrauensbruch, wenn er Huskonen von der Krankheit der Frau erzählen würde? Selander und Huskonen kannten sich seit bald 40 Jahren, sie hatten fast gleichzeitig bei der Polizei angefangen, sie waren bekannte Sportler gewesen, Sprinter der eine, Dreispringer der andere. Sie standen sich zwar nicht so nahe, dass Selander Huskonen von der Krankheit seiner Frau erzählt hatte. Aber sie mochten sich. Beide waren schwedische Männer vom alten Schlag. Schweigsam, ernsthaft, zuverlässig, politisch korrekt. Selander war ehrgeiziger als Huskonen, und deshalb war er Leiter der Mordkommission geworden. Huskonen war zufrieden mit dem, was er hatte.
„Halldors Frau hat Krebs“, sagte Munk. „Sie wird nicht mehr lange leben.“
Huskonen blickte zu Boden. Er sagte nichts. Dann stand er auf, legte Munk die Hand auf die Schulter und verließ den Raum. Munk, der gestanden hatte, setzte sich. Er spürte plötzlich einen Schmerz über das, was er gerade erlebt hatte, und er spürte die Verantwortung, die auf ihn zukommen würde. Er musste ein Team leiten. Entscheidungen für alle treffen. Da war es nicht gut, sprunghaft zu sein. Aber Casper Munk war sprunghaft.
8
Stockholm, 1973
Am Samstag kam immer Jens Sterbik zu Besuch, Vaters bester Freund. Sterbik war Sozialdemokrat, nein, sogar ein leidenschaftlicher Sozialdemokrat. Er brannte für die Partei, seit Olof Palme Parteichef und Ministerpräsident Schwedens geworden war, also seit Ende der 1960er-Jahre. Palme war ein Charismatiker, der zwar aus der Oberschicht kam, der sich aber für die Gleichstellung aller Menschen einsetzte; der einnehmend lächeln konnte; der einen großen Willen zur Macht hatte; der sich gerne mit anderen maß und oft gewann, weil er ein famoser Rhetoriker war. Palme war ein Mann, der an Modernität und Fortschritt glaubte. Und er war mutig.
Sterbik liebte es, wie Palme den Amerikanern die Stirn bot. Der schwedische Regierungschef war