Opfer ohne Gewissen. Lasse Blom

Opfer ohne Gewissen - Lasse Blom


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Katt war tot, sein Idol von früher. Er war ermordet worden.

      Rydmark kam am Kosmetikstudio an und stieg aus dem Wagen. Er kaute auf seinem Kaugummi und lächelte. Diesmal lächelte er nicht bitter, sondern freundlich. Er konnte das: sich über seine Frau ärgern und dann sofort umschalten, wenn er sie sah, denn er sah sie immer noch gerne, die Miss Uddevalla. Er tänzelte auf das Studio zu. Ein Boulevardblatt hatte einmal über ihn geschrieben, Folke Rydmark bewege sich, als hätte er zwei Väter: Bob Marley und Ingemar Stenmark. Für jüngere Leser erläuterte die Zeitung, Stenmark sei ein eleganter Slalomläufer gewesen, Marley ein lässiger Musiker.

      Janne Kink trat aufs Gaspedal. Es waren noch zehn Kilometer bis zum Skogskyrkogården, auf dem Rune Katt beerdigt werden sollte. Und er hatte noch 13 Minuten, ehe die Zeremonie beginnen sollte. Das sollte eigentlich reichen für zehn Kilometer. Aber nicht im Stadtverkehr. Kink zog nervös an seiner Zigarette. Dann sah er aufs Armaturenbrett: Er fuhr 80. Mitten in der Stadt. Aber es war ihm egal. Er dachte an Rune Katt.

      Janne Kink. Rune Katt.

      Er war so stolz auf diesen ähnlichen Klang gewesen, damals, als Junge.

      Er war neun gewesen, als Katt mit AIK Stockholm Meister geworden war; er hatte auf dem Sofa gesessen und am Radio zugehört, wie die letzten Minuten im letzten Spiel verronnen waren. AIK hatte bis dato ein 1:1 bei Malmö FF gehalten, das hätte zum Meistertitel gereicht.

      „Noch vier Minuten“, hatte der Reporter gesagt und der kleine Janne hatte die Luft angehalten. Seine Daumen waren feuerrot gewesen, so fest hatte er sie gedrückt. Malmö war noch einmal vor das AIK-Tor gekommen, der Ball, so hatte es der Reporter geschildert, war in den Strafraum geflogen, Malmös großer Stürmer Niklas Berg war hochgestiegen – aber Katt hatte den Ball aus der Luft heruntergeholt. Janne war in seinem Zimmer herumge­sprungen vor Freude.

      „Nachspielzeit“, hatte er den Reporter sagen hören.

      „Idiot!“, hatte Janne gerufen; er hatte nicht den Reporter gemeint, sondern den Schiedsrichter, wegen der Nachspielzeit.

      Janne hatte sich aufs Bett geworfen, den Kopf im Kissen verborgen und sich die Ohren zugehalten. Er hatte nicht hören wollen, falls Malmö noch ein Tor schießen und AIK den Meistertitel verlieren würde. So war er drei, vier Minuten gelegen, dann hatte er es gewagt, die Hände von den Ohren zu nehmen. Aus dem Radio war in diesem Moment lauter Jubel zu hören gewesen. Jubel von AIK? Oder Jubel über das Siegtor von Malmö FF? Janne hatte sich über sich selbst geärgert, dass er sich die Ohren zugehalten hatte. Dann waren weitere Sekunden ver­ronnen, der Reporter hatte davon gesprochen, dass man die Spieler des neuen schwedischen Meisters vors Mikrofon bekommen wollte. Janne hatte gehofft, dass es seine Spieler sein würden, die Spieler von AIK.

      „Wir haben Rune Katt!“, hatte der Reporter gebrüllt.

      „Jaaaaaaaa!“, hatte Janne gerufen. „Wir sind Meister!“

      Noch acht Minuten, dachte Janne Kink. Er war mittlerweile auf dem Nynäsvägen, der im Süden Stockholms stadt­auswärts führte. Der Skogskyrkogården lag in Enskede. Kink konnte nun richtig Gas geben. Ich schaffe es pünktlich, dachte er und drückte die Zigarette im Aschenbecher seines Autos aus. Als die Redaktion sagte, er solle zur Beerdigung Rune Katts fahren, um einen Artikel über „­Schwedens größten Torwart aller Zeiten“ zu schreiben, hatte er nur halbherzig eingewandt, dass er gerade nicht könne, weil seine Recherche über die osteuropäische Welpenmafia in einer sehr entscheidenden Phase sei. Sein Chef hatte bloß gesagt: „Kümmer dich lieber um die Katze von AIK.“ Das war Katts Spitzname gewesen. Jetzt war die Katze tot.

      Nora Törn war mit der U-Bahn zum Skogskyrkogården gekommen. Sie hatte lange mit sich gerungen, ob sie zur Beerdigung gehen sollte. Zu groß waren die Wunden. Riesen­groß waren sie. Wegen des Vaters und wegen … Jetzt stand sie am Grab. Und ihr kamen die Tränen. Die Trauergäste neben ihr dachten, sie weine um den Vater. Aber sie würde nie um diesen Vater weinen. Nora nahm ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich die Tränen ab. Sie wollte stark sein. Der Priester hatte mit seiner Rede bereits begonnen.

      „Es fühlt sich heute so eigenartig leer an“, sagte er.

      Nora wusste sofort, woran sie dieser Satz erinnerte: Der frühere Regierungschef Göran Persson hatte ihn gesagt – bei der Beerdigung von Astrid Lindgren. Nora kannte die ganze Rede auswendig, genauso wie die anderen Reden bei Lindgrens Beerdigung. Persson hatte damals gesagt: „­Danke, Astrid. Danke für alles, was du uns gegeben hast! Du hast uns Bilder gegeben; Bilder, die uns zusammen­führen.“ Und über Kinder hatte Persson gesagt: „Astrid hat wie wenige Kinder gesehen – ihr Ausgeliefertsein und ihre Stärke, ihren ganzen und vollen Wert.“

      Jetzt rannen Nora die Tränen wieder über die Wangen, sie konnte nicht anders. Ihr Vater, der berühmte Rune Katt, hatte ihren Wert als Kind brutal mit Füßen getreten. Und sie war ihm ausgeliefert gewesen.

      „Rune Katt ist von uns gegangen“, sagte der Priester. „Nein, man hat ihn uns genommen.“

      Als Kommissar Casper Munk den Skogskyrkogården erreichte, war die Zeremonie bereits im Gange. Der Priester sprach zu den Trauergästen. Munk sah sich um – es mussten wohl Tausende sein, die Abschied nehmen wollten von Rune Katt, der nur wenige Meter neben Lennart Skoglund begraben werden sollte. War das Absicht? Skoglund war einer der besten Stürmer der Welt gewesen. Aber er hatte sich sozusagen in dieses Grab gesoffen. Hatte Katt mit Skoglund zusammengespielt? Wohl kaum. Katt war jünger. Auch Greta Garbo lag auf diesem Friedhof. Munk war sicher, dass Rune Katt niemals mit Greta Garbo zusammen­gespielt hatte.

      Munk hörte nicht länger darauf, was der Priester sagte, es waren ohnehin nur die üblichen Floskeln. Der Priester gab sich keine Mühe. Vermutlich interessierte er sich nicht für Fußball. Und die Menschenmenge schien ihn auch nicht zu beeindrucken. Er machte seinen Stiefel.

      Munk hing seinen Gedanken nach. Katt war das Idol seiner Kindheit gewesen. Munk war Fan von AIK Stockholm gewesen, und im Tor von AIK hatte dieser große, breite Mann gestanden, der fast immer einen dunkelblauen Pullover und eine weiße Sporthose trug. Weiße Hosen hatten damals vor allem die Keeper in England getragen. In Schweden und auf dem Kontinent hatten die Tor­leute schwarze Hosen an. Katt war also extravagant gewesen. Munk hatte ihn dafür bewundert. Viele Jungs in seinem Alter hatten Katt bewundert. Er hätte einen anderen Tod verdient gehabt, dachte Munk. Er blickte nach vorne. Dort betete der Priester die Stationen von Katts Karriere lieblos herunter. Der Mann hat die Herzen von vielen Menschen berührt, dachte Munk, und jetzt wird er von einem Priester ohne Leidenschaft von dieser Erde verabschiedet.

      „Danke, Rune“, murmelte Munk, als der Priester seine Rede beendet hatte und der Sarg in die Grube hinab­gelassen wurde.

      Munk sah sich um. Er versuchte sich die Gesichter der Gäste einzuprägen, die dem Grab am nächsten standen. Er wusste, dass Katt in den letzten Jahren mit einer viel jüngeren Frau zusammengewesen war; Munk hatte das in den bunten Blättern gelesen. Und er wusste, dass Katt eine Tochter aus einer früheren Beziehung hatte. Munk hatte vor mehr als 40 Jahren ein Interview mit Katt gelesen, in dem dieser gefragt wurde, was sein „größtes außer­sportliches Erlebnis“ gewesen sei. Der Torwart hatte geantwortet: „Die Geburt meiner Tochter Nora machte mich über­glücklich.“ Munk erinnerte sich daran, sogar an den Wortlaut der Antwort.

      In der Nähe des Grabes stand eine dunkelhaarige Frau um die 50. Sie weinte. Das musste entweder die Tochter sein oder die Lebensgefährtin. Sie stand dort ziemlich alleine, niemand tröstete sie. Als der Sarg in der Grube verschwunden war, drehte sich die Dunkelhaarige ruckartig um und ging davon. Munk und einige Trauergäste sahen ihr hinterher.

      „Das ist Katts Tochter Nora“, sagte eine Stimme von hinten.

      Munk drehte sich um.

      „Leila!“, sagte er eine Spur zu laut. „Schön, dich zu sehen.“

      „Kannst


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