Opfer ohne Gewissen. Lasse Blom
ob er nicht gleich mit der Pistole statt mit dem Ball schießen sollte. Er verwarf den Gedanken wieder.
„Leg den Ball hier ab und geh ins Tor“, sagte der Jüngere, eine Spur aggressiver als gewollt.
„Nervös, Junge?“, fragte Katt und sah seinen Gegner mit zusammengekniffenen Augen an.
„Geh ins Tor!“, sagte der Jüngere noch schärfer. Er erinnerte sich daran, woher er diesen Blick kannte. Und genau dieser Raubtierblick erinnerte ihn daran, warum er diesen Mann töten wollte.
„Geh ins Tor!“, rief er noch einmal.
Der alte Mann legte den Ball etwa elf Meter vor dem Tor ab und stellte sich zwischen die Bäume. Rune Katt sah nicht mehr so imposant aus wie in seiner aktiven Zeit. Damals war er 1,87 Meter groß und muskulös gewesen. Jetzt stand er mit gebeugtem Rücken und grauen Haaren zwischen den Bäumen; er trug kein blaues Trikot, keine weiße Sporthose – wie hatte der Jüngere dieses Outfit früher geliebt – und keine Handschuhe wie damals, sondern eine Jeans, ein kariertes Hemd und eine Strickjacke. Er war schlank, aber Muskeln waren nicht mehr zu erkennen. Rune Katt sah aus wie ein gut erholter Großvater. Nie und nimmer würde er den Ball erreichen können, wenn der Jüngere ihn nur halbwegs in eine Ecke schießen würde.
Er fühlte sich jetzt wieder überlegen.
„Na, willst du nicht wenigstens die Strickjacke ablegen?“, rief er Rune Katt zu.
„Gute Idee“, sagte Katt, zog die Jacke aus und warf sie in den Wald hinter sich. Dann stellte er sich mitten in sein Tor.
„Ich bin bereit“, sagte er.
Der Jüngere hatte den Ball in der linken und die Pistole in der rechten Hand. Er legte die Waffe neben sich, ganz nah, damit er jederzeit zugreifen konnte, sollte Katt sich auf ihn stürzen. Rune Katt behielt er dabei stets im Auge.
Dann legte er sich den Ball zurecht. Seine Nervosität war verflogen; er war selbst ein guter Fußballer gewesen. Jetzt konzentrierte er sich nur auf den Elfmeter. Er würde den Ball in die rechte untere Ecke schießen – so wie früher.
„Es geht los“, rief er Katt zu, der etwas in die Hocke gegangen war und mit zusammengekniffenen Augen auf den Ball schaute.
„Schade, dass du nicht im Tor stehst“, sagte Katt mit seinem Raubtierblick. „Mit deinen verkrüppelten Händen würdest du keinen Ball halten.“
Das saß.
Der Jüngere sah Katt in die Augen. Er wusste, dass der alte Mann ihn provozieren wollte. Und wer sich provozieren ließ, war nicht mehr ruhig. Der Jüngere aber zwang sich zur Ruhe. Er reagierte nicht auf Katts Worte, nahm zwei Meter Anlauf und trat wuchtig gegen den Ball, der flach in Richtung rechtes unteres Toreck rauschte.
Rune Katt legte alle Energie, die noch in seinem 73-jährigen Körper steckte, in den Sprung, er kippte wie ein Tipp-Kick-Torwart nach links unten und reckte die linke Hand nach dem scharf geschossenen Ball. Die Finger berührten den Ball und lenkten ihn an den Baum, von dort sprang er über den am Boden liegenden Katt hinüber zum anderen Pfosten, fiel nach unten – und kullerte deutlich hinter die Torlinie.
2
Kommissar Casper Munk aß ein Schokocroissant und blätterte in der Zeitung. Er blieb am Text einer Anzeige hängen: „Sachbearbeiter für Grabangelegenheiten gesucht.“ Munk grinste. Während einer sehr stressigen Lebensphase hatte er Leuchtturmwärter in Neufundland oder Bahnwärter in der hinteren Slowakei werden wollen. Hauptsache ruhig. Aber das hier war auch nicht schlecht: Sachbearbeiter für Grabangelegenheiten – und er würde, falls er den Job bekäme, darauf bestehen, nur für das zuständig zu sein, was tatsächlich im Grab passierte. Das wäre nicht viel.
„Warum lächelst du?“, fragte Tove, seine Freundin, die vor einem Kaffee saß und ein Buch in der Hand hielt.
„Falls ich mal bei der Polizei aufhören möchte, könnte ich Sachbearbeiter für Grabangelegenheiten werden“, sagte Munk und deutete auf die Anzeige.
„Bist du dafür qualifiziert?“, fragte Tove.
„Ich habe in meinem Berufsleben viel mit Toten zu tun“, erwiderte Munk.
„Wir machen einen Test“, sagte sie und legte ihr Buch weg. „Ich frage dich jetzt, wie verschiedene Berufsgruppen standesgemäß sterben.“
„Keine Ahnung, was du meinst.“
„Der Gärtner?“
„Hä?“
„Er beißt ins Gras“, sagte sie.
„Ausgesprochen komisch.“
„Weiter“, sagte sie ungeduldig. „Wie stirbt der Pfarrer?“
Munk überlegte. Dann schüttelte er den Kopf.
„Er muss dran glauben“, sagte Tove. „Und ein Pornostar?“
Munk schwieg.
„Nibbelt ab“, sagte sie. Tove hatte einen leicht überlegenen Ton an sich.
„Der Gemüsehändler?“, fragte sie.
„Schaut sich die Radieschen von unten an“, antwortete Munk.
„Na bitte“, sagte Tove gönnerhaft. „Und was sagt der sterbende Mathematiker?“
Bevor Munk nachdenken konnte, sagte Tove: „Der sterbende Mathematiker sagt: ‚Damit war zu rechnen.‘“
Munk schaute Tove etwas genervt an. Seit sie mit ihm zusammen war, versuchte sie immer wieder, ihn in puncto Humor zu toppen. Und für Munks Geschmack triumphierte sie zu sehr, wenn ihr das gelang. Sollte er mit ihr darüber reden?
Das Klingeln des Handys unterbrach seine Gedanken.
„Munk.“
Halldor Selander war dran, sein Chef. Er entschuldigte sich, dass er ihn an seinem letzten Urlaubstag störte. Aber er solle doch bitte am nächsten Tag auf eine Beerdigung gehen.
„Auf eine Beerdigung?!“, rief Munk ins Handy und war versucht, Selander zu fragen, wie ein Polizist standesgemäß stirbt. Dann riss er sich zusammen.
„Wer ist denn gestorben?“, fragte er etwas ruhiger.
Munk hörte die Antwort und murmelte: „Dann hat der Torwart seine Handschuhe wohl endgültig an den Nagel gehängt.“
3
Folke Rydmark saß in seinem Auto und fluchte vor sich hin. Er hasste sich dafür, dass er diese Frau geheiratet hatte. Nein, er hasste sich dafür, dass er sie nicht verließ.
„Miss Uddevalla“, sagte er leise vor sich hin und lächelte bitter. Er hatte sich mit ihr eingelassen, weil sie schön war, und weil ihre Schönheit zu mehr gereicht hätte, als bloß Miss Uddevalla zu werden, benannt nach einer Stadt in der Region Bohuslän im Westen von Schweden. Vielleicht Miss Schweden? Locker. Aber sie hatte sich nie darum beworben. Sie hatte ihn geheiratet, Folke Rydmark, einen sehr guten Torwart, der lange beim IFK Göteborg gespielt hatte und noch mit 42 Jahren bei Nottingham Forest in der zweiten englischen Liga. Nationaltorwart in Schweden war er nie geworden, das ärgerte ihn. Rydmark war jetzt 52, er war mit einer Frau verheiratet, die er für dumm hielt und mit der er nur noch zusammen war, weil sie einen gemeinsamen Sohn hatten: Kenneth. Wieder lächelte Rydmark bitter. Seine Frau wollte es, dass der Sohn Kenneth hieß. Weil es so viele Kenneths gab, sogar einen Kenneth-Club in fast jedem Ort in Schweden.
„Da hat er dann gleich Anschluss“, hatte seine Frau gesagt.
Rydmark mochte das nicht. Sein Sohn sollte etwas Besonderes sein, kein Nullachtfünfzehn-Kenneth. Er sollte ein Individuum sein, nicht ein kleines Teil in einem Kollektiv. Kollektive gab es genug in diesem Gleichmacher-Schweden.
Folke Rydmark brach seine Gedanken ab. Er würde jetzt seine Frau von der Kosmetikerin abholen (Rydmark musste lachen, was für ein