Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962). Andreas Roth
hervor, dass die akademische Nachkriegsgeneration zu „historisch-politischem Verständnis des Gewesenen und Gewordenen erzogen“ werden müsse und auszustatten sei mit einem „anderen Geschichtsbild als in der wilhelminischen Zeit, mit einem anderen erst recht als in der alles verfälschenden nationalsozialistischen Zeit“1. Zu diesem Zeitpunkt bemühte sich der Südosteuropahistoriker Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962), der die wilhelminische Zeit als Gymnasiast und Kriegsteilnehmer miterlebt hatte und während der „alles verfälschenden“ Hitlerherrschaft dafür gekämpft hatte, zumindest eine Dozentur zu bekommen, seine Wiedereingliederung in den Münchener Lehrbetrieb zu erreichen. In der bayerischen Hauptstadt hatte er sich vor dem Zweiten Weltkrieg habilitiert, und während des Krieges war ihm eine Dozentur zuerkannt worden. Anfang Dezember 1946 erhielt er seitens des Rektorats die Aufforderung, den „befriedigenden Beweis zu erbringen“, dass er die „positiven politischen, liberalen und sittlichen Eigenschaften“ besitze, die zur „Entwicklung der Demokratie in Deutschland“ beitragen sollten.2
Am 15.12.463 legte er in seiner „Selbstdarstellung hins. politischer Einstellung“ dar, dass er „jede Form der Diktatur“ immer „mit Entschiedenheit“ abgelehnt habe. Seit seinen Kriegserfahrungen 1917/18 sei ihm indes der Sozialismus „als das Notwendige“ erschienen. In den 1930er Jahren habe er den „Rassefanatismus“ abgelehnt und dessen Auswirkungen auf seine zahlreichen jüdischen Bekannten sogar „bekämpft und gemildert“. In seiner Habilitationsschrift befinde sich kein Satz, der „irgendwelche Konzessionen an den Nationalsozialismus“ mache, und letztlich habe er sich der politischen Zensur dadurch entzogen, dass er seine Manuskripte „bei Seite“ legte, auch „auf die Gefahr hin als ‚unproduktiv‘ betrachtet zu werden“. Nie sei er Mitglied einer nationalsozialistischen Organisation gewesen.4
Seine „Balkan-Kenntnisse“, so Reiswitz, hätten ihm 1941 zur Stellung des Leiters des militärischen Kunstschutzes in Serbien verholfen. Zwei Sozialdemokraten seien es gewesen, die ihm bereits 1924 das Tor in die Welt der serbischen Intellektuellen aufgestoßen hätten. Während des Zweiten Weltkriegs habe er diese Beziehungen aufrechterhalten und gepflegt. Zusammenfassend könne er sagen, dass 1941–1944 „nicht ein einziges Objekt aus serbischen Museen verschleppt worden“ sei und dass die „Serben durch die Arbeit des Kunstschutzes überhaupt erst ein Gesetz zum Schutz ihrer Altertümer erhielten, dass die historischen Kirchen, Klöster und Baudenkmäler im Rahmen des überhaupt möglichen [sic] geschützt“ worden seien und dass „kein einziger Mensch“ durch ihn, Reiswitz, „in seiner Freiheit beschränkt“ worden sei, sondern, im Gegenteil, „viele befreit und am Leben erhalten worden sind“.5
Ein preußischer Baron im Majorsrang der Wehrmacht soll im Ersten Weltkrieg mit dem Sozialismus geliebäugelt und während der Hitlerherrschaft Juden geschützt haben? Ein Militärverwaltungsbeamter, der seine Hand über serbisches Kulturgut und serbische Intellektuelle hielt, zu einer Zeit, als „zu große Milde … das Letzte war, was man der Wehrmacht in Serbien vorwerfen konnte.“6? Im heutigen Serbien genießt Reiswitz einen ausgezeichneten Ruf: „His image in the Serbian public is strongly positive“.7 Der serbischsprachige Wikipediabeitrag über ihn beinhaltet die Aussage, dass er während des Krieges mehrfach im Sinne der serbischen Kulturdenkmäler bei deutschen Behörden interveniert habe.8
Die vorliegende Arbeit hat sich zur Aufgabe gemacht, zunächst herauszufinden, welchen wissenschaftlichen und politischen Positionen Johann Albrecht von Reiswitz verschrieben war. Stand er tatsächlich dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüber? Das Hauptanliegen ist es, ein besseres Verständnis dafür zu gewinnen, welche Rolle Reiswitz im Zusammenhang mit dem deutschen Kunstschutz in Serbien in den Jahren 1941 bis 1944 spielte.
Hierbei offenbart sich ein insbesondere für diese Arbeit spezifisches definitorisches und somit auch methodisches Dilemma: Ist der vorliegende Text eine biographische Untersuchung oder letztlich eine Fallstudie zum Kunstschutz in Serbien? Sicherlich war Reiswitz kein wirkungsmächtiger Wissenschaftler. Er publizierte kaum, brachte es lediglich zum außerplanmäßigen Professor und hinterließ kaum Spuren bei seiner akademischen Schülerschaft. Er bekleidete kein herausgehobenes politisches oder militärisches Amt. Von daher erscheint es auf den ersten Blick wenig ertragreich, ihn zum Thema einer wissenschaftlichen Biographie zu machen. Also doch eher eine Fallstudie? Doch liefert der Kunstschutz in Serbien, streng genommen ein Einmannbetrieb, welcher nicht nur personell, sondern auch von seinen sonstigen Ressourcen und der Bedeutsamkeit der von ihm zu schützenden Kulturgüter her von den vergleichbaren Abteilungen in Frankreich, Italien und Griechenland in den Schatten gestellt wurde, überhaupt genug Stoff für eine wissenschaftliche Monographie?
Der Ausweg aus dem definitorischen und methodischen Dilemma tat sich auf, als nach dem Studium der vorhandenen Quellen und der Forschungsliteratur zu Reiswitz und zum Kunstschutz sich ein klarer Befund ergab: Ohne Reiswitz hätte es wohl keinen militärischen Kunstschutz in Serbien während des Zweiten Weltkriegs gegeben, und ohne die Tätigkeit als Kunstschützer in Serbien wäre Reiswitz als im Foucault’schen Sinne „infamer Mensch“ sicherlich „ohne Spur“ geblieben.9 Aus dieser Interdependenz ergibt sich das Spezifische dieser Studie. Auch ohne ihre jeweiligen individuellen Leiter wären in Frankreich, Italien und Griechenland Abteilungen für Kunstschutz innerhalb der Militärverwaltungen eingerichtet worden, insbesondere aufgrund der enormen Quantität und Qualität des vorgefundenen Kulturgutes. Auch ohne ihre Arbeit als Kunstschützer wären die Kunstschutzleiter in Griechenland bzw. Italien, Wilhelm Kraiker (1899–1987) und Hans Gerhard Evers (1900–1943), die zu Beginn des Krieges bereits als Privatdozenten lehrten und, anders als Reiswitz, universitär etabliert waren, biographiewürdige Wissenschaftler.
Reiswitz hingegen wird ausschließlich durch den Kunstschutz wirkungsmächtig und ohne ihn wäre der Kunstschutz in Serbien wohl wirkungslos geblieben.
Aus diesem Grund ist das Forschungsprogramm dieser Arbeit darauf ausgelegt, sich sowohl mit der Person Reiswitz als auch mit dem Thema Kunstschutz in Serbien zu beschäftigen. Es wird versucht zu ergründen, wie es zu dieser spezifischen Verflechtung kommen konnte, zumal zu einem Zeitpunkt, der, wie die nachstehenden Ausführungen zu zeigen versuchen, sowohl für Reiswitz persönlich als auch für kunstschützerische Arbeit in Serbien der denkbar unwahrscheinlichste zu sein schien.
Zunächst sei an dieser Stelle kurz zu klären, worum es sich beim militärischen Kunstschutz definitorisch handelte. Am 05.02.1941 trafen der Leiter des Kunstschutzes beim Oberkommando des Heeres (OKH), Franz Graf Wolff-Metternich zur Gracht, in Begleitung seines Stellvertreters, Bernhard von Tieschowitz, in der Pariser „Galerie nationale du Jeu de Paume“, dem Umschlagort für Raubkunst, auf Hermann Göring. Die beiden obersten Kunstschützer der Wehrmacht erklärten dem „prominentesten Kunsträuber“10 des „Dritten Reiches“, dass sie für die Sicherheit der beschlagnahmten Kunstwerke verantwortlich seien. Irritiert beklagte sich Göring darüber, dass er sich nun noch mit einer weiteren Dienststelle abgeben müsse, und verwies die OKH Vertreter rüde des Saales.11
Diese Anekdote veranschaulicht deutlich das Spannungsverhältnis zwischen Kunstraub und Kunstschutz im Kriege. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges waren bereits die völkerrechtlichen Fundamente für den Schutz von Kulturgütern im Kriegsfalle geschaffen worden. Die von Deutschland ratifizierte Haager Landkriegsordnung von 1907 legte in Artikel 27 das Folgende fest: „Bei Belagerungen und Beschiessungen sollen alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen werden, um die dem Gottesdienste, der Kunst, der Wissenschaft und der Wohltätigkeit gewidmeten Gebäude, die geschichtlichen Denkmäler, die Hospitäler und Sammelplätze für Kranke und Verwundete so viel wie möglich zu schonen, vorausgesetzt, dass sie nicht gleichzeitig zu einem militärischen Zwecke Verwendung finden.“ Ergänzt wurde dies in Artikel 56: „Das Eigentum der Gemeinden und der dem Gottesdienste, der Wohltätigkeit, dem Unterrichte, der Kunst und der Wissenschaft gewidmeten Anstalten, auch wenn diese dem Staate gehören, ist als Privateigentum zu behandeln. Jede Beschlagnahme, jede absichtliche Zerstörung oder Beschädigung von derartigen Anlagen, von geschichtlichen Denkmälern oder von Werken der Kunst und Wissenschaft ist untersagt und soll geahndet werden.“12 Doch führte, wie es der Historiker Wilhelm Treue, ein guter Freund des Barons Johann Albrecht von Reiswitz, in seiner Monographie über Kunstraub