Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter. Elian Mayes

Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter - Elian Mayes


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und das Besteck danebenlegte. Dann setzte er sich und wartete darauf, dass seine Mutter ihm Nudeln und Soße auftun würde. Sie hatte das schon immer gemacht, seit Elias denken konnte, und daran hatte sich auch nichts geändert, als er älter geworden war und das Kochen übernommen hatte.

      »Guten Appetit, mein Schatz!« Mrs Marquez setzte sich ihrem Sohn gegenüber und prostete ihm mit ihrem Wasserglas zu. Er erwiderte diese Geste, bevor er sich hungrig aufs Essen stürzte. Zuletzt hatte er am Morgen etwas gegessen und nun war es schon fast sieben Uhr abends, wie die Uhr an der Wand verriet. Wenn man nicht ab und an draufschaute, konnte man die Zeit fast vergessen.

      »Wie war denn dein Tag?«, fragte Elias, schluckte den Bissen eilig herunter, als sie ihn mahnend ansah, und grinste schuldbewusst. Sie hasste es, wenn er mit vollem Mund sprach.

      »Wie deiner«, antwortete sie und lächelte ein wenig verschmitzt. »War ein öder Tag. Keine besonderen Vorkommnisse.«

      »Das ist doch gut, oder?« Schließlich bedeutete das zugleich, dass nichts Schlimmes passiert war.

      »Doch, ja, eigentlich ist das gut.« Sie seufzte, während sie in den Nudeln stocherte und sich eine in den Mund schob. »Aber manchmal wäre es nett, etwas mehr Abwechslung zu haben. Dass einfach was passiert, irgendwas.«

      Ja, das verstand er. Doch außer einem mitfühlenden Nicken fiel Elias darauf keine Antwort ein. Schweigend aßen sie zu Ende. Elias räumte den Tisch ab und seine Mutter übernahm das Spülen.

      Als Elias später in seinem Bett lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, kamen seine Gedanken allmählich zur Ruhe. Er war erschöpft, müde vom Tag, vom Nichtstun und dem ewigen Grübeln über seine Zukunft. Hier, in seinem kleinen Reich – mit Betonung auf klein, denn sein Zimmer war sicher nicht größer als sechs, sieben Quadratmeter – konnte er seine Gedanken nur zu überdeutlich hören. Unter Elias’ Hochbett standen sein Schreibtisch und ein kleines Regal. Dazu ein kleiner Vorleger zwischen Bett und Wandschrank. Das war es. Im Gegensatz zur Küche, wo eine billige, aber dennoch schöne Lampe die Decke schmückte und die Neonröhren versteckte, baumelte bei ihm bloß eine dieser großen Energiesparlampen in ihrer Fassung an einem Kabel. Sie schwang leicht hin und her, weil er beim Erklettern des Bettes mit dem Kopf dagegen gestoßen war. Elias fixierte sie mit den Augen, folgte der Bewegung. Obwohl ihn das kühle Licht blendete, machte es ihn zugleich schläfrig und träge. Sein Blick wanderte müde über die Wände, die seine Mutter bemalt hatte, als er noch klein gewesen war und sie nach dem Tod seines Vaters hatten hierher umziehen müssen. Elias wusste schon lange nicht mehr, wie sein Zimmer ohne die Szenen aus liebgewonnen Kinderbüchern ausgesehen hatte, und er war sehr froh darum. Vier kahle, fensterlose Wände stellte er sich nämlich überaus trostlos vor.

      Ihre künstlerische Begabung hatte seine Mutter nicht nur in seinem Zimmer, sondern außerdem in ihrem eigenen und dem Wohnbereich ausgelebt. Elias mochte die Blumen, die Muster und die Farben, die ihr kleines Reich freundlich machten und den grauen Wänden Leben einhauchten. Besonders an den Malereien von den Bergen und den Wäldern konnte er sich gar nicht sattsehen. Direkt neben dem Sofa hatte seine Mutter eine Terrassentür an die Wohnzimmerwand gezaubert. Sie sah so realistisch aus, dass es wirkte, als könnte man durch sie hindurch in einen Wald treten, der dahinter lag. Als Elias noch klein gewesen war, hatte er sich vorgestellt, dass er dort auf dem Gras zwischen den Bäumen spielte. Stundenlang hatte er nur dasitzen und dieses Bild ansehen können, das für ihn in jenen Momenten zur Realität geworden war.

      Irgendwann während seines Ausflugs in seine Kindheitserinnerungen musste Elias eingeschlafen sein. Das hohe Piepsen, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte, und der Umstand, dass er immer noch seine Kleidung vom Vortag trug, ließen keinen anderen Schluss zu. Lustlos schälte er sich aus dem Bett und dann, nachdem er müde ins Bad gekrochen war, erst einmal aus seinen alten Klamotten, die sogleich in den Wäschekorb wanderten. Gähnend streckte er sich vor dem Spiegel, aber erst das Wasser auf seiner Haut machte ihn ein klein wenig wacher. Vor allem deswegen, weil es eiskalt war, er mit einem erschrockenen Schrei einen halben Meter zurücksprang und sich den Kopf an den Armaturen stieß. Welch ein wunderbarer Start in den Morgen!

      Elias duschte eilig und trocknete sich ab. Schnell rasierte er sich noch, dann zog er sich an. Dunkelgraue Hose und dazu passendes Jackett mit seinem Schullogo auf der Brust, schwarzer Gürtel, darunter ein weißes Hemd. Seine ehemalige Schuluniform war das Einzige in seinem Kleiderschrank, das die Bezeichnung »formell« verdiente, und damit das Einzige, das er ruhigen Gewissens zu einer Vorladung bei der ID-Stelle tragen konnte. Auch wenn er das triste Grau furchtbar fand. Immerhin mit der Krawatte tupfte er etwas Farbe in sein deprimierendes Erscheinungsbild; sie war dunkelrot. Ein prüfender Blick in den Spiegel verriet ihm, dass sie auch ganz passabel saß – zumindest für seine Verhältnisse – und er in Wahrheit nicht so verschlafen aussah, wie er sich fühlte. Als Elias aus dem Bad schlurfte, begrüßte ihn der Geruch von Kaffee. Unwillkürlich lächelte er. Seine Mutter war einfach die Beste!

      »Guten Morgen, mein Großer!« Wie sie um diese Uhrzeit schon so gut gelaunt sein konnte, war ihm ein Rätsel. Elias war froh, wenn er morgens mehr als ein Grunzen von sich geben konnte. Dennoch war er dankbar, dass seine Mutter schon so fröhlich war, denn sie war es, die seine Lebensgeister nach der kurzen Dusche nicht wieder in sich zusammenfallen ließ. Ohne ein weiteres Wort drückte sie ihm eine dampfende Tasse in die Hand und deutet auf den kleinen Tisch, auf dem eine Schale mit Müsli und ein Snack für unterwegs schon bereitstanden. Vielleicht war es merkwürdig, nach dem Abschluss und kurz vor dem Eintritt ins Berufsleben von seiner Mutter noch das Essen zubereitet zu bekommen, aber Elias liebte sie dafür umso mehr. Das Gefühl, nicht allein zu sein, dass es jemanden gab, der ihn liebte, half ihm oft über den Tag.

      »Bis später!« Elias verabschiedete sich, nachdem er sein Müsli hinuntergeschlungen hatte. Sie antwortete mit den gleichen Worten und dann fiel die Wohnungstür bereits hinter ihm ins Schloss.

      Er wohnte mit seiner Mutter im untersten Stockwerk seines Wohnblocks, was es ihm zumindest ersparte, diverse Treppen zu laufen, bis er auf der metallenen Plattform stand, auf der sich der Block neben zig anderen nahtlos in eine monotone Reihe fügte. Direkt zu seiner Linken führte eine Treppe ins zweite und dritte Stockwerk des Blocks, darüber lag schon die nächste Plattform. Dort musste er hin. Elias wandte sich nach links, ging an drei weiteren Blocks vorbei, die genau wie der aussahen, in dem er selbst wohnte, überquerte einen breiteren Gang und ließ vier weitere Blocks hinter sich. Dann bog er rechts ab, ließ die Nachbarreihe hinter sich, bis er den Rand der Plattform erreichte. Die Aussicht von hier in den hunderte Meter tiefen Schacht war eigentlich atemberaubend. Das Lichtermeer der zig Plattformen gegenüber schien endlos und die bunten Lichtblitze der Aufzüge und Magnetbahnen wirkten wie Fische darin. Früher hatte Elias oft hier gestanden und den Anblick genossen, doch inzwischen hatte das Alles seinen Reiz verloren. Für ihn zählte morgens, dass nur noch eine Blockreihe zwischen ihm und der Treppe lag, die zu den höher oder tiefer gelegenen Plattformen führte. Ohne jemanden anzurempeln, versuchte er, sein Tempo zu halten, denn er war spät dran und die Treppen kosteten ihn Zeit. Fünfzig Stufen, fünfzig verschissene Stufen lagen zwischen den einzelnen Ebenen und davon musste er jeden Morgen ganze drei Stück nach oben laufen. Erst ab da fuhr die Magnetbahn. Schon seit Jahren war ein Ausbau der Aufzüge nach unten geplant, aber bisher war nichts dergleichen geschehen; Elias lief die gefühlt endlosen Stufen noch immer zu Fuß.

      Trotz der kühlen Luft erreichte er die Magnetbahn schweißgebadet. Elias packte den Gurt seiner Tasche fester, die ihm von der Schulter zu rutschen drohte, während er seinen rechten Arm hektisch unter das Lesegerät hielt. Das vertraute Piepsen ertönte, die kleine Schranke öffnete sich und er hetzte weiter zu seinem Gleis. Zu seinem Glück war die Bahn noch da. Mit einem Satz war er drin; im gleichen Moment schlossen sich die Türen hinter ihm zischend und die Bahn setzte sich in Bewegung. Schon nach kurzer Zeit beschleunigte sie so sehr, dass Elias sich eilig an einem der Haltegriffe festklammerte, um nicht umgeworfen zu werden. Dann wurde der Zug von einem düsteren Tunnel verschluckt.

      Keine zwanzig Minuten später strömte Elias inmitten einer gewaltigen Menschenmasse auf den Bahnsteig der Zentrale. Nur der Name der Haltestelle verriet ihm, dass er sich nun woanders befand, ansonsten sah es fast aus wie zu Hause. Allerdings änderte sich dieser Eindruck schlagartig, als er auf den großen Platz trat. Hier war alles viel


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