Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter. Elian Mayes
Betonwände fanden sich hier sogar einige Grünpflanzen. Sicherlich künstliche, aber es ließ die Umgebung direkt freundlicher wirken. Wolkenanimationen im Gewölbe, ein angenehmer Lufthauch, verursacht von der gigantischen Klimaanlage, und Springbrunnen in der Mitte des Platzes konnten ihn fast vergessen lassen, dass er sich tief unter der Erde befand. Menschen drängten sich dicht an dicht, das Stimmengewirr und die Schritte vieler tausend Füße waren fast ohrenbetäubend. Doch Elias war nach all den Jahren so daran gewöhnt, dass er es schon gar nicht mehr wahrnahm. Er verließ den Bahnhof durch den Südausgang, folgte dem Schild, das zum Zentrum wies, und bog nach links ab. Von hier fuhr eine andere Linie in den Verwaltungsbezirk, wo sich beinahe sämtliche Behörden und Ämter befanden. Diesmal war es eine kurze Fahrt und der Stadtteil, in dem er ausstieg, sah seiner eigenen Plattform wieder ein Stückchen ähnlicher. Ebene über Ebene, darauf eintönige Gebäude, alles in beton- oder stahlgrau. Zwar erhellten auch hier Tageslichtlampen die Gänge und Wege; der Prunk der Zentrale reichte dennoch nicht bis hierher.
Ein gigantischer Komplex erhob sich nun vor ihm, der insgesamt zwölf Ebenen umfasste. Die Gebäude auf jeder dieser Ebenen waren zwischen drei und sechs Stockwerke hoch. Die ID-Stelle lag auf der höchsten Ebene. Elias erreichte sie über einen der Hochgeschwindigkeitsaufzüge. Es ging so weit hinauf, dass einige der Räume sogar Tageslichtschächte besaßen. Wieso ausgerechnet eine Behörde Sonnenlicht benötigte, war ihm nicht klar, aber Elias genoss die Strahlen, die hereinfielen. Die flachen Stufen zum Haupteingang bezwang Elias mit wachsender Abneigung und betrat den schmucklosen Flur. Er schlängelte sich durch die Masse an wartenden Menschen zum Aufzug. Mit jedem Schritt wurde er langsamer, wollte am liebsten wieder nach Hause verschwinden.
Als sich die Aufzugtüren öffneten, standen in der Kabine Menschen dicht an dicht gedrängt. Ein wenig besorgt, ob der Aufzug das Gewicht aller tragen würde, zwängte sich Elias hinein. Die Luft war stickig und die Stimmung ungemütlich. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. In nicht wenigen Gesichtern konnte Elias dieses gewisse Unbehagen lesen, das auch er empfand. Lautlos glitt die Aufzugtür zu, dann schoss der Aufzug nach oben. Elias warf noch einmal einen Blick auf die Mail, um auch ja im richtigen Stockwerk auszusteigen. Als er schließlich auf den nächsten Gang trat, war er froh, wieder frei atmen zu können. Doch dieses Gefühl hielt nicht lang. Die Vorstellung, was ihn gleich erwarten würde, lastete auf ihm und schnürte ihm die Kehle zu. In dieser Etage warteten vereinzelt Menschen vor den weißen Türen, umklammerten bang die Chips mit den Nummern, die ihnen die Reihenfolge vorgaben. Elias ging an ihnen vorbei, den Blick auf den dunklen Boden gerichtet, und war auf einmal froh, dass er einen Termin hatte. So würde er das hier zumindest so schnell wie möglich hinter sich bringen können. Zögerlich klopfte an der Tür, deren Nummer ihm mitgeteilt worden war. Geräuschlos glitt die Tür zur Seite auf.
»Guten Morgen.« Elias war noch nicht einmal eingetreten, da wurde er von der Sachbearbeiterin begrüßt, die hinter einem weißen Schreibtisch saß und mit starrem Blick auf ein Holo sah. Ihre Stimme klang freundlich, aber zugleich merkwürdig monoton und sie sah so unauffällig aus, dass es beinahe auffällig war: mausgraues Haar, zu einem Dutt gebunden, dunkler Hosenanzug. Über dem Herzen das Zeichen der Föderation. »Sie müssen Elias sein.« Elias zog es vor, nicht zu antworten. Stattdessen nickte er bloß stumm. Hinter ihm glitt die Tür wieder ins Schloss. Unauffällig sah er sich um. Vier weiße Wände – wenn man einmal die Tür außer Acht ließ – und eben jener Schreibtisch in der Mitte des Raumes.
»Bitte, setzen Sie sich doch.«
Elias tat, wie ihm geheißen.
»Also, Elias …« Ohne ein weiteres Wort der Begrüßung und auch ohne sich vorzustellen, scrollte die Frau durch ein Dokument auf einem Holo, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. »… Sie haben sich nur auf eine einzige Stelle beworben und dann auch noch auf eine, die so hart umkämpft ist. Warum?«
»Ich …« Sollte er die Wahrheit sagen? Dass nur diese eine Stelle überhaupt für ihn infrage kam? Wenn er auch sonst nicht sonderlich viel Wert auf Schule gelegt hatte, so hatte er in den Naturwissenschaften alles gegeben. Er wollte unbedingt einen Platz im Institut.
»Nun, ich höre?«
Er entschied sich für die Wahrheit. »Ich kann mir außer dieser einen Sache nichts anderes vorstellen. Mein Vater hat auch in diesem Institut gearbeitet und sein Interesse muss auf mich abgefärbt haben.«
»Das ist zwar verständlich, aber Sie sollten sich im Klaren darüber sein, dass Ihre Chancen nicht gut sind. Sie haben lediglich einen mittleren Abschluss an einer mittelmäßigen Bildungsstätte absolviert. Ihre Noten waren nicht herausragend.«
Elias’ Mund wurde trocken. Zwar lächelte die Frau ihn freundlich an, doch dieses Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Außerdem glaubte er, einen drohenden Unterton in ihrer Stimme zu vernehmen.
»Meine naturwissenschaftlichen Leistungen sind sehr gut gewesen.« Das waren sie wirklich.
»Das mag sein, aber sie stehen in keinem Verhältnis zu Ihren restlichen Leistungen. Abgesehen davon, dass die Institution, bei der Sie diese Leistungen erbracht haben, nicht gerade für herausragende Abgänger bekannt ist. Was werden Sie tun, wenn Sie die Stelle am Institut nicht bekommen?« Ihre Augen schienen sich in seine zu bohren, kalt und abschätzig.
»Ich … ich weiß nicht«, gab er zu und spürte, wie seine Hände zu schwitzen begannen. »Ich dachte vielleicht an die Wache oder den Sicherheitsdienst oder …«
»Vielleicht?«, wiederholte sie. Diesmal war Elias sich sicher, dass ein spöttischer Unterton mitschwang, auch wenn ihr Lächeln unverändert war. »Ich denke, Ihnen ist bekannt, dass jeder und jede Einzelne seinen oder ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten muss, oder nicht? Ebenso, dass ein nahtloser Übergang zwischen den einzelnen Lebensabschnitten der Bürger und Bürgerinnen erwünscht ist? Die Bewerbungen für die Wache sind schon lange durch, und dass Sie die körperlichen Voraussetzungen dafür mitbringen, wage ich auch zu bezweifeln.«
Elias biss sich auf die Lippe, um nichts zu erwidern, das er bereuen würde. Inzwischen war er es so satt, sich immer wieder das Gleiche anzuhören. Als ob er nicht wüsste, was denjenigen bevorstand, die keine Stelle fanden! In manchen Nächten träumte er sogar davon! Den Müll von Millionen sortieren zu müssen, beziehungsweise, die Maschinen zu warten, die das taten, war dabei noch der beste Job. Nachdrücklich schob er die Gedanken beiseite, die sich anzubahnen drohten, und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Frau vor ihm, die ihn noch immer verächtlich musterte.
»Ich werde mich darum kümmern«, versprach er, obwohl er keinen Schimmer hatte, wie er das anstellen sollte. Im Nachhinein betrachtet, war es eine reichlich dumme Idee gewesen, sich nur beim Institut zu bewerben, aber ein Studium war mit dem Namen seiner Bezirksschule auf dem Zeugnis – auch ganz unabhängig von den Noten – von vorn herein ausgeschlossen gewesen. Zumal seine Mutter sich das niemals hätte leisten können. Was hätte er also sonst tun sollen? Du hättest dich direkt bei der Wache bewerben können, du Vollpfosten, zischte eine leise Stimme in seinem Kopf und verdammt, ja, sie hatte recht.
»Das will ich hoffen, Elias. In zwei Wochen endet die Frist, dann erwarte ich Sie wieder hier bei mir.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, in der sie ihn ernst ansah, und streckte dann die Hand aus. »Lassen Sie mich noch einen Vermerk auf Ihrer ID machen, dann vergessen Sie es nicht.« Obwohl sie es so freundlich formuliert hatte, wusste Elias, dass er sich dem nicht widersetzen durfte. Stumm streckte er den Arm aus und ließ sich scannen. Er wusste, was die Frau eintrug. Wenn er die Stelle entgegen allen Erwartungen doch noch bekam, würde er ihr eine Bestätigung zumailen und sie würde den Vermerk löschen. Würde er das nicht tun, würde sie ihn dem nächsten freien Arbeitsplatz zuteilen. Das konnte die Mülltrennung sein, es konnten aber auch die Schächte sein. Bei dem Gedanken daran breitete sich Kälte in Elias’ Körper aus. Er war so ein verdammter Idiot gewesen, sich nicht noch auf eine andere Stelle zu bewerben. Doch dann wären seine ohnehin geringen Chancen darauf, vom Labor genommen zu werden, noch weiter gesunken. Diesmal hatte er einmal zu viel auf sein Glück vertraut.
Mit monotoner Stimme verabschiedete Elias sich und verließ die ID-Stelle. Für einen kurzen Augenblick kam ihm der Gedanke, nie wieder dorthin zurückzukehren, aber er verwarf ihn sofort. Wenn er sich in zwei Wochen nicht bei der Sachbearbeiterin