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besaß Annie schon eines dieser blöden Geräte und dann half es ihnen nicht! »Das ist doch ihre Pflicht! Wofür sind sie denn sonst da?« Elias musste schreien, anders wusste er seiner Gefühle nicht Herr zu werden. Wut, Verzweiflung, Angst und Ohnmacht. Das alles drohte über ihm zusammenzubrechen, ihn niederzureißen. Wie sollten sie diesen riesigen Park allein nach den beiden durchkämmen und das in der kurzen Zeit? Mühsam zwang er sich dazu, langsamer zu atmen, und kämpfte die Panik zurück. Sie hatten nur wenig Zeit und die galt es nun, so effektiv wie möglich zu nutzen.
»Du da entlang, ich hier«, griff er Annies Kommando wieder auf und nickte ihr zu. Mit jeder Minute wurde es dunkler. Dass sie sich trennten, behagte ihm überhaupt nicht, aber so konnten sie eine größere Fläche absuchen und solange die Sonne noch über dem Horizont schwebte, drohte keine Gefahr. Und selbst danach … Elias hatte sich nie Gedanken darüber gemacht, wo und wie die Jäger lebten. Womöglich brauchten sie eine Weile, bis sie die Stadt erreichten und sie nach verirrten Menschen durchkämmten. Das Problem war eher, dass die Tore sich pünktlich schlossen. Elias bezweifelte stark, dass er und Annie die ganze Nacht überleben würden.
Immer wieder sah Elias auf die Uhr, vergewisserte sich, dass noch Zeit blieb, und betete, dass Annie ihre Schwester finden möge. Das Gelände wurde immer unwegsamer, die Natur hatte sich in einem erstaunlichen Umfang von den Menschen erholt. Sicherlich lag das daran, dass der Regen im Park nicht abgefangen und der Stadt zugeführt wurde. Als ein umgestürzter Baum den Weg versperrte, wusste Elias, dass es für ihn nicht mehr weiterging. Den Stamm zu überwinden, stellte das kleinere Problem dar, aber der ganze Baum war überwuchert von Gestrüpp und Elias konnte nirgends Spuren ausmachen, die darauf hindeuteten, dass jemand anderes da hindurchgebrochen war. Er wandte sich um, rannte den Weg zurück, den er gekommen war, und hielt Ausschau nach Annie.
Sie trafen sich am Tor, beide allein.
»Wo kann sie denn noch sein?«, flüsterte Annie verzweifelt und war drauf und dran, sich auf den Boden fallenzulassen. Elias packte sie jedoch am Arm und zwang sie, ihn anzusehen.
»Annie, ich weiß, du willst das nicht hören, aber wir müssen zurück! Selbst wenn wir rennen, wird es knapp für uns.«
»Ich kann sie nicht hier draußen allein lassen!« Ihre Reaktion war exakt die, die er erwartet hatte. Ja, verdammt, glaubte sie denn, er wollte die beiden Kleinen hier in der Dunkelheit zurücklassen? Aber die Nacht draußen zu verbringen und bis zum Morgen vermutlich tot zu sein, half doch auch niemandem!
»Vielleicht sind die beiden schon lange zu Hause.« Die Wahrscheinlichkeit war nicht besonders hoch, aber es war dennoch möglich und Elias war in diesem Moment alles recht, um Annie zum Umkehren zu bewegen. Tatsächlich gab sie klein bei. Ihre Schultern fielen ein Stück in sich zusammen. Im Halbdunkeln konnte er ihren Blick nur undeutlich erkennen, aber es reichte, um zu wissen, dass ihr klar war, dass er selbst nicht daran glaubte. Trotzdem setzten sie sich in Bewegung und rannten.
Elias rannte um sein Leben. Bald ging ihm die Puste aus, aber diesmal dachte er gar nicht daran, stehen zu bleiben. Mit jedem Blinzeln wurde der Himmel dunkler, die Schatten der Ruinen länger. Elias hielt sich die schmerzende Seite, während er rannte und ihm die Füße immer schwerer wurden. Noch ein Stückchen.
Doch als sie beide um die Biegung preschten, waren die Tore geschlossen. Der Anblick presste Elias die spärliche Luft aus den Lungen und ließ ihn verzweifelt keuchen.
Nein. NEIN! Mit einem frustrierten Aufschrei schlug Elias gegen das kalte Metall. Es bewegte sich keinen Millimeter. Natürlich nicht. Waren diese Tore einmal geschlossen, bekam man sie von außen nicht mehr auf, und selbst wenn sie durch Kameras beobachtet wurden, waren die Gesetze eindeutig. Sie waren verloren.
»Scheiße!« Verzweifelt hieb er ein weiteres Mal gegen das Tor. Nicht, weil er sich der Hoffnung hingab, das Schicksal noch abwenden zu können, sondern nur, weil ihm nichts Besseres einfiel. Er war verdammt nochmal zu jung, um zu sterben! Verzweifelt wiederholte Elias diesen Ausdruck seiner Hoffnungslosigkeit noch einige Male, doch irgendwann sank er einfach an der glatten Wand hinab in den Staub. So würde es also mit ihm zu Ende gehen. Als Futter für die Jäger. Wie lange würde es dauern, bis sie die Stadt erreichten und ihn fanden? Wie lange, bis es vorbei war? Abermals fragte er sich, wo sie überhaupt lebten und wie sie aussahen. Die Schauergeschichten, die er schon als Kind gehört hatte, waren da recht eindeutig: Groß waren sie. Gewaltig geradezu, mit gigantischen, schwarzen Schwingen, rotglühenden Augen und handkantenlangen Reißzähnen. Doch entsprachen sie auch der Wahrheit? Bei dem Gedanken, von diesen Mordwerkzeugen in Stücke gerissen zu werden, wurde ihm schlecht. Hoffentlich würde seine Mutter ihn nicht identifizieren müssen. Einen solchen Anblick wollte er ihr ersparen. Aber vielleicht war diese Überlegung hinfällig. Vielleicht fraßen Jäger ihre Opfer gleich mit Haut und Haaren auf.
»Elias …« Er sah auf. Annie hatte sich zu ihm gesellt und schaute bang auf ihn herab. Sie zitterte am ganzen Leib, die Angst beherrschte auch sie. »Elias, bitte, lass uns hier verschwinden.« Elias wollte verächtlich schnauben, doch was seiner Kehle entkam, war eher ein trockenes Schluchzen.
»Wohin denn?«, fragte er verzweifelt. »Es ist Nacht, sie werden uns so oder so aufspüren.«
»Aber … Sollten wir nicht zumindest versuchen, uns in Sicherheit zu bringen?« Annies Stimme wurde brüchig. Am Ende flüsterte sie nur noch und sah sich bei jedem Wort ängstlich um. In Sicherheit bringen … Nirgends waren sie sicher! Nur die Stadt bot sicheren Schutz und der war ihnen in dem Moment verwehrt worden, als die Tore verriegelt worden waren. Dennoch erhob Elias sich mühsam. Aller Prognosen zum Trotz war sein Überlebenswille noch nicht bereit, dieses Dasein aufzugeben. Wenn es einen Ort gab, der sicher war, dann war das …
»… das Dach«, flüsterte er Annie zu. »Wir müssen auf das Dach.«
Kaum ausgesprochen, setzte Elias sich in Bewegung, wusste seine beste Freundin dabei knapp hinter sich. Er hörte ihre Schritte auf dem rissigen Asphalt und ebenso deren Echo, das sich in den Häuserschluchten verstärkte. Waren da noch andere Schritte? Er konnte es nicht sicher sagen, fragte sich mehrmals, ob die Jäger sie bereits im Visier hatten und nur noch mit ihnen spielten. Panik lauerte in seinen Venen. Er konnte ihr Kribbeln mit jedem Meter mehr spüren. Ebenso ihre eiskalten Klauen an seiner Kehle. Mit aller Kraft kämpfte Elias sie wieder und wieder zurück. Wenn er in Panik geriet, dann war es ohnehin vorbei. Es galt nun, einen kühlen Kopf zu bewahren, ruhig zu bleiben und vielleicht ein geeignetes Versteck zu finden. Doch bisher war niemand, der die Nacht an der Oberfläche hatte verbringen müssen, je zurückgekehrt. Das wusste jeder. Wieso sollten sie die Ersten sein? Hatten sie überhaupt eine Chance?
Mit der Nacht war auch die Kälte gekommen. Sie froren erbärmlich. Nur an einigen wenigen Stellen funktionierte die uralte Straßenbeleuchtung noch und wenn sie einen Lichtkegel passierten, konnte Elias seinen Atem in der Luft erkennen. Vielleicht, dachte er plötzlich sarkastisch, würden nicht die Jäger sie umbringen, sondern diese Kälte, die sie nicht im Mindesten gewohnt waren und der sie nichts entgegenzusetzen hatten. Unter der Erde war es stets gleichmäßig kalt oder warm.
Ein Quietschen riss Elias aus seinen Gedanken und abrupt blieb er stehen. Annie lief prompt in ihn hinein, aber das nahm er nur am Rande wahr. Er hörte Schritte und einen röchelnden Atem. Sein Herz setzte einen schmerzhaften Moment lang aus, bevor es ihm beinahe aus der Brust sprang, so wild schlug es. Er wagte nicht, sich umzudrehen, fürchtete den Anblick des Monsters. Stattdessen wartete er auf den Angriff, der unweigerlich folgen würde. Nein, die Courage, zu kämpfen, hatte er eindeutig nicht. Qualvoll langsam verstrichen die Sekunden. Machte der Jäger sich einen Spaß daraus, sie zu beobachten? Annies Fingernägel gruben sich schmerzhaft in seinen Arm; Elias hatte nicht einmal bemerkt, dass sie ihn umklammert hielt. Wieso konnte sich der Jäger nicht einfach beeilen und sie erlösen? Aber es geschah nichts, es quietschte nur ein weiteres Mal und schließlich kratzte Elias all seinen Mut zusammen. Er riskierte einen vorsichtigen Blick über die Schulter und schnappte überrascht nach Luft. Die Straße hinter ihnen war leer, soweit er das in der Dunkelheit erkennen konnte. Niemand lauerte auf sie in den Schatten, keiner machte sich zum Angriff bereit. Seine Fantasie hatte ihm bloß einen Streich gespielt. Die Anspannung fiel für einige Lidschläge von ihm ab wie eine tonnenschwere Last, nur, um ihn kurz darauf wieder gefangen zu nehmen.