Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter. Elian Mayes
gierig. Ein Teil versickerte auf der Stelle im weichen Boden, ein anderer Teil lief sein Kinn hinab, tropfte auf seine Kleidung. Er biss noch einmal zu, zerrte an der Haut, bis sie riss und schluckte wieder. Der köstliche Geruch von Blut, die Wärme auf seiner Zunge; es wurde zu einem Rausch. Wieder und wieder biss er zu, schluckte, ohne zu kauen, denn das brauchte er gar nicht. Oh verdammt, so lange hatte er gewartet!
Seine Umgebung beachtete er nicht. Einzig dieses Mahl zählte und dass er endlich einmal satt sein würde. Erst das verdächtige Knacken eines Zweiges brachte ihn zurück in die Gegenwart. Er hatte die verdammte Zeit vollkommen vergessen! Jeden Augenblick konnte er entdeckt werden und dann würde es eng werden. Er hatte keine Zeit mehr. Eilig packte Kiresh die Reste seiner Beute und machte sich auf den Weg zurück. Kurz überlegte er, das, was noch übrig war, irgendwo zu verstecken, doch er entschied sich dagegen. Dass niemand anderes sie finden würde, war ausgeschlossen. Also musste er mitnehmen, was er tragen konnte. Wenn Seray etwas abhaben wollte, konnte sie darauf lange warten. Sollte sie doch das nächste Mal selbst jagen, statt sich aus dem Staub zu machen!
Orientierung suchend blickte Kiresh sich um. Details, wie die Wuchsrichtung des Mooses, verrieten ihm, welche Richtung er einschlagen musste, um den Weg nach Hause zu finden. Und auch, wenn er sich beeilen musste, genoss Kiresh doch den Lufthauch auf seiner Haut und in seinen Haaren, fühlte deutlich das Gras unter seinen bloßen Füßen. Oh ja, die Nacht war seine Zeit! Er lief schneller, übersprang mit Leichtigkeit einen umgestürzten Baum und landete federnd auf der anderen Seite. Jeder einzelne Muskel vibrierte vor Lebendigkeit. Noch fünfhundert Meter trennten ihn von dem Zaun, hinter dem Seray auf ihn wartete. Kiresh lief noch schneller, wich im Zickzack den uralten Bäumen aus. Er machte sich selbst ein Spiel daraus, so knapp wie möglich an ihnen vorbeizufliegen. Wieder war da ein Knacken. Instinktiv lauschte er darauf, filterte andere Geräusche heraus.
»Hey Kiri, wohin so eilig?«
Verdammt! Kiresh erstarrte im Lauf und zog automatisch den Kopf ein. Hatten diese unterbelichteten Idioten ihm etwa aufgelauert? Oder war er ihnen aus Versehen in die Arme gelaufen? Keine Glanzleistung seinerseits, ganz eindeutig.
»Was willst du, Figh?«, presste Kiresh zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, ohne sich umzudrehen. Dieser Widerling sollte ruhig wissen, dass er ihn nicht für eine Bedrohung hielt. Er konnte ihm gar nichts!
»Spüre ich da etwa latente Aggression? Dazu hast du überhaupt keinen Grund, mein Lieber, denn ich bin derjenige, der gerade bestohlen wird.«
»Bestohlen?« Kiresh lachte heiser auf und drehte sich nun doch zu Figh um. Er saß auf einem Ast direkt über ihm und beobachtete ihn genau. Also war er ihm in die Arme gelaufen. Wie hatte ihm das entgehen können? Figh trug ein für ihn typisches überlegenes Grinsen zur Schau, das sein eigentlich nicht unattraktives Gesicht furchtbar hässlich machte. Zumindest in Kireshs Augen.
»Ja, bestohlen.« Figh seufzte, als bedauerte er es, Kiresh diese Nachricht mitzuteilen, und ließ sich dann behände ins Gras fallen. Er landete knapp zwei Schritte von ihm entfernt. »Du weißt doch sicher noch, wie die Abmachung war, oder nicht? Das hier ist unser Revier, nicht das eurer verlausten Bande von Rattenfängern.« Bei dieser Bezeichnung wallte Wut in Kiresh auf. Als ob irgendjemand von ihnen sich das freiwillig antat!
»Tut mir leid, das muss mir entfallen sein.« So wütend er auch war, Kiresh ließ sich nichts anmerken, erwiderte das Lächeln stattdessen kalt. Natürlich wusste er, in wessen Revier er jagte. Doch das interessierte ihn einen feuchten Dreck. Die Aufteilung war mehr als unfair gewesen, denn Figh und sein Haufen von elitären Arschlöchern hatten sich den Park unter den Nagel gerissen. Außerdem den Osten der Stadt und von dort die Wälder bis zu den Bergen. Da musste er damit rechnen, dass die übrigen Jäger das nicht auf sich sitzenließen.
»Ich helfe deinem Erinnerungsvermögen gern auf die Sprünge, Kleiner.« Figh machte einen Satz auf Kiresh zu und fletschte drohend die Zähne, doch Kiresh zuckte nicht einmal mit der Wimper. Er war schneller als Figh, also hatte er von ihm nichts zu befürchten. Trotzdem war er nicht unbedingt scharf auf diese Art der Konfrontation. Er wollte doch nur in Ruhe seine Beute in Sicherheit bringen!
»Du bist kleiner als ich«, wies Kiresh ihn lächelnd auf diese Tatsache hin und wusste, dass sein Tonfall provozierte. Etwas Besseres konnte ihm gar nicht passieren, denn ein wütender Figh war ein Figh, dem er noch leichter entkommen konnte. In seinem Fall bekam die Redewendung »blind vor Wut« nämlich eine völlig neue Bedeutung.
»Das da«, Figh deutete auf die Beute in Kireshs Arm, »steht dir nicht zu. Also her damit.« Unbewegt sah Kiresh hinunter auf das Fleisch, das er erbeutet hatte. Dann blickte er wieder nach oben in Fighs schwarze Augen und schüttelte den Kopf.
»Vergiss es, du Großkotz! Nur weil ein paar von euch irgendwelche Grenzen durch Gebiete gezogen haben, die uns allen gehören, werde ich mein Essen sicher nicht mit dir teilen.«
»Von teilen spricht niemand, Abschaum. Du wirst es uns übergeben und fertig. Kannst froh sein, wenn wir dich für das, was du bereits verdrückt hast, nicht zur Rechenschaft ziehen.«
Kiresh lachte spöttisch auf. »Mich zur Rechenschaft ziehen? Dazu habt ihr nicht das Recht.«
»Oh doch, dazu haben wir jedes Recht. Wer auch immer sich unerlaubt in unser Revier wagt, muss büßen.« Wie auf ein Stichwort traten zwei weitere Jäger aus den Schatten hervor. Kiresh erkannte sie sofort. Beide gehörten sie zu Figh und flankierten ihn wie Hunde ihr Herrchen. Wütend presste Kiresh die Kiefer aufeinander. Dieser Auftritt und die abgedroschenen Phrasen passten zu Figh, wie eine kräftige Faust auf sein Auge gepasst hätte, und allmählich musste er sich eingestehen, dass er in der Unterzahl war. Trotzdem wich er nicht zurück, sondern sah jedem der drei ins Gesicht. Mit aller Ruhe, die er aufbringen konnte. Figh erwiderte seinen Blick mit einem hässlichen Grinsen. Seine Zwillingsschwester Meera, die zu seiner Rechten stand, lächelte dazu passend süßlich-arrogant. Das Gesicht des Dritten lag im Dunkeln, aber Kiresh war sich sicher, dass der Geruch zu Vile gehörte, ebenfalls einer von Fighs Speichelleckern.
»Kiri, du sollst doch nicht die Großen ärgern.« Meera blinzelte ihm aus dunkelroten Augen zu und schlich um ihn herum. Kiresh verfolgte sie mit den Augen, war sich jeder ihrer fließenden Bewegungen bewusst; sie schnitt ihm den Fluchtweg zur Seite ab.
»Ich glaube, er steht auf Abreibungen«, zischte Vile und tat es Meera spiegelverkehrt nach. Nur Figh rührte sich nicht von der Stelle. Selbstgefällig verschränkte er die Arme vor der Brust; sein hässliches Grinsen wurde eine Spur breiter. »Also, Kiri? Gibst du zurück, was uns gehört?«
Knurrend sah Kiresh von einem zum anderen. Sein Stolz verbot es ihm, sich zu ergeben, doch er war nicht dumm. Er sah sich allein drei Jägern gegenüber und würde den Kürzeren ziehen, wenn es zu einem Kampf käme. Es sei denn, er schaffte es, schneller zu verschwinden, als die drei reagieren konnten.
Blitzschnell drehte er sich zur Seite und drückte sich vom Boden ab. Er zog das andere Bein nach und setzte dem verdutzten Vile den Fuß hart auf die Brust. Der war so überrumpelt, dass er rücklings zu Boden stürzte und sich fauchend zur Seite abrollte. Fighs wütender Schrei gellte über die Lichtung. Kiresh nahm die Beine in die Hand und rannte. Wie der Wind flog er über umgestürzte Baumstämme und kleine Felsen, wich verrotteten Müllkörben und totem Gehölz aus. Hinter sich hörte er noch immer Fighs zorniges Gebrüll, das einfach nicht leiser werden wollte. Trotzdem vermied Kiresh es, über die Schulter zu schauen und so an Tempo zu verlieren. Einfach weiter. Immer weiter.
»KIRESH!« Es war Fighs Stimme, die durch den Wald schallte, aber Meeras Geruch, der langsam aber sicher näher kam. Kiresh schlug Haken, verschwand zwischen den Bäumen in der Dunkelheit, übersprang sogar einen Zaun. Doch es half nichts. Die kleine Schlampe war verdammt schnell und ihrem Bruder leider vollkommen hörig.
»Komm schon, bleib stehen, Süßer. Wir kriegen dich sowieso.« Ihr helles Lachen verursachte Kiresh eine Gänsehaut der unguten Sorte. In einem Kampf hatte sie keine Chance gegen ihn, aber wenn Meera ihn zu Fall brachte, würden ihr Bruder und Vile ihn schneller einholen, als ihm lieb war, und dann war er chancenlos. Die Entscheidung fiel blitzschnell. Mit einem frustrierten Knurren ließ Kiresh seine Beute fallen. Manchmal war es wohl doch besser,