Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter. Elian Mayes
auf sie herab. Annie wich kreischend zur Seite aus, bevor ein mannshohes Trümmerteil dort aufschlug, wo sie noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte. Elias wurde von den Füßen gerissen und nach hinten geschleudert. Überall war Staub. Er stand in der Luft wie eine Wand, machte das Atmen schwer. Annies Taschenlampe war nur noch als vager Schein zu erahnen, aber es reichte, um zu erkennen, dass nicht die Decke herabgefallen war, sondern dass die Trümmer im Durchgang nach oben den Weg nach unten gefunden hatten.
»Alles okay bei dir?« Mühsam kam Elias auf die Füße und war mit wenigen Sätzen bei Annie.
»J-ja, ich glaube schon …« Sie setzte sich auf und rieb sich den Kopf. »Wo sind …« Sie musste nicht weitersprechen, Elias wusste auch so, was sie meinte.
»Ich weiß nicht.« Trotz, dass er angestrengt lauschte, konnte er keine Geräusche ausmachen, die den Aufenthaltsort der beiden Jäger verraten hätten. »Vielleicht haben sie sich selbst begraben«, setzte er hoffnungsvoll hinterher, dann zog er Annie auf die Füße.
Tatsächlich blieb es still bis auf das Geräusch von rieselndem Feinschutt. Sie verharrten noch einige Augenblicke, warteten ab, doch es blieb dabei.
»Lass uns einen Ausgang suchen«, murmelte Annie irgendwann leise und zog zaghaft an Elias’ Ärmel. »Einen anderen, mein ich«, fügte sie hinzu und deutete auf den eingestürzten Aufgang. »Das da ist mir unheimlich.«
Gemeinsam kämpften sie sich vorwärts. Über uralte, umgestürzte Regale, Schutt und Trümmer, doch schon bald mussten sie feststellen, dass es außer diesem einen Aufgang keinen anderen Weg nach draußen gab. Nicht einmal einen Schacht oder Ähnliches. Wohl oder übel mussten sie den Rückweg antreten. Als sie sich dem versperrten Aufgang näherten, wurde Annie langsamer. Schließlich bedeutete sie Elias mit einer Handbewegung, stehen zu bleiben.
»Was, wenn sie doch noch da sind? Sollten wir nicht lieber hier unten bleiben?« Er überlegte. Sein Blick wischte hinüber zu dem Trümmerhaufen, der von oben hinabgestürzt war, dann zu dem Loch in der Decke, das nun frei lag.
»Vielleicht hast du recht …« Er sah auf sein Smartphone, das zwar an der Oberfläche nicht zum Telefonieren taugte, aber zumindest die Uhrzeit verlässlich anzeigte. Sie hatten etwas mehr als die halbe Nacht geschafft, und schienen in diesem Keller sicher zu sein. »… aber wenn wir nochmal von Jägern aufgespürt werden, gibt’s keinen zweiten Fluchtweg. Wenn von dort …«, er zeigte auf den Aufgang, »… jemand kommt, sitzen wir endgültig in der Falle.«
Im schwachen Schein der Lampe konnte er sehen, wie sie hilflos an ihrer Unterlippe kaute und mit sich rang. Schließlich ließ sie die Schultern fallen und nickte.
Gemeinsam erklommen sie den Trümmerberg. Elias half Annie beim letzten Stück nach oben, weil sie etwas kleiner war, und hangelte sich dann selbst aus dem Loch. Oben angekommen blieben sie erst einmal erschöpft liegen.
»Was glaubst du, wo die beiden hin sind?«, fragte Annie irgendwann flüsternd und sprach damit aus, was auch Elias interessierte. Seine größte Hoffnung war, dass sie mit den Trümmern abgestürzt waren und sich selbst darunter begraben hatten. Oder sich wahlweise den Kopf so heftig angeschlagen hatten, dass sie zumindest in dieser Nacht nicht wieder aufwachen würden.
»Wir brauchen einen sicheren Platz bis morgen früh«, murmelte er, ohne auf Annies Frage einzugehen. »Lass uns mal schauen, ob es in diesem Gebäude mehr gibt als nur diesen Raum und den Keller.«
»Ich schätze, das kann euch beiden egal sein.«
Innerhalb von Sekunden war Elias auf den Füßen. Ihm wurde beinahe schwindelig, so schnell hämmerte sein Herz in seiner Brust. Ein Stück entfernt entflammten rote Augen in der Dunkelheit.
»Ich wusste doch, dass ich euch nicht folgen muss, um euch zu kriegen.« Ein heiseres Lachen ertönte. Dann kamen die Augen näher. Automatisch wollte Elias einen Schritt rückwärts machen, doch er wusste, dass hinter ihm das Loch war, aus dem er und Annie gerade erst gekrochen waren. Voller Angst blieb er, wo er war. Angespannt, bis in die letzte Muskelfaser. Zwischen ihnen und ihrem einzigen Fluchtweg stand das Monster. Sie hatten nur diese eine Chance. Nur diese eine Gelegenheit.
Der Jäger pirschte bedächtig vorwärts. Vorsichtiger, als Elias ihn bisher erlebt hatte. Offenbar hatte er dazugelernt. Knurrend setzte er zum Sprung an. Kurz blitzten spitze Zähne im immer schwächer werdenden Schein von Annies Lampe auf.
Dann ging alles blitzschnell. Der Jäger drückte sich vom Boden ab. Elias wich mit einem Hechtsprung zur Seite aus, riss Annie dabei zu Boden. Er spürte den Luftzug in seinem Gesicht, als die Klauen des Monsters seinen Kopf nur minimal verfehlten. Wütendes Fauchen peitschte durch die Luft, der Jäger stürzte in das Loch, erwischte nur knapp den Rand. Er versuchte, sich an einem querliegenden Trümmerteil festzukrallen, doch der Schwung seines Sturzes riss ihn nach unten.
»Lauf!« Elias griff nach Annies Hand und zog sie hinter sich her. Hinter ihm krachte es ohrenbetäubend, doch er wollte sich nicht mehr umsehen. Er wollte nur noch raus aus dieser Ruine!
»Kiresh!« Jemand schrie. Elias glaubte, die Stimme als die der Jägerin identifizieren zu können. Panisch stürzte er vorwärts, stolperte fast zum zweiten Mal über das Trümmerteil, das ihn schon einmal in dieser Nacht von den Füßen geholt hatte. Fest hielt er Annies Hand umklammert, als er endlich durch das Loch nach draußen sprang. Ob die Jägerin ihnen folgte oder nicht, konnte er nicht sagen; er wagte es nicht, stehenzubleiben und sich umzudrehen. Er hörte bloß ihre Schreie, wie sie nach ihrem Bruder rief.
Wie lange sie gerannt waren, ohne stehenzubleiben, ohne sich umzusehen, konnte hinterher niemand von ihnen mehr sagen. Irgendwann war ihnen die Puste ausgegangen. Nun befanden sie sich auf der anderen Seite der Stadt, ganz in der Nähe eines Zugangs zur unterirdischen Zuflucht. Aber das half ihnen nicht, wenn ihnen niemand öffnete.
»Wir müssen ein Versteck finden«, keuchte Annie. Sie zog Elias in die Richtung eines verfallenen Gebäudes. Er folgte ihr, aber sah nicht recht den Sinn darin. Auch im nächsten Versteck konnten sie aufgespürt werden. Diesmal vielleicht von anderen Jägern. Oder von einer größeren Gruppe.
Annie drückte die Klinke und ging voraus. Die Tür knirschte, als sie aufschwang. Das Exterra leuchtete ihnen mehr schlecht als recht den Weg. Es flackerte zwischenzeitlich, aber zumindest genügte es, um einen Eindruck von dem Gebäude zu bekommen. Es schien ein ehemaliges Wohngebäude zu sein. Anders als jene, in denen sie bisher Zuflucht gesucht hatten. Sie warfen einander einen Blick zu und in stummer Übereinkunft schoben sie eine altersschwache Kommode vor die Eingangstür. Dann machten sie sich auf die Suche nach einem Zugang zum Keller. Staub rieselte von der Decke und mehr als einmal pflückte sich Elias Spinnweben vom Gesicht. Offenbar war seit sehr langer Zeit niemand mehr hier gewesen.
Die Tür zum Keller schien nicht verschlossen zu sein, aber sie ließ sich auch nicht um mehr als einen schmalen Spalt öffnen. Feuchtkalte Luft schlug ihnen daraus entgegen. Sie roch alt und modrig. Elias warf sich mehrmals gegen die Tür, so fest er konnte. Ihm war, als bewegten sich die alten Angeln Millimeter für Millimeter.
»Ich glaub, jetzt passe ich durch«, flüsterte Annie irgendwann und tatsächlich: Mit etwas Mühe quetschte sie sich durch den Spalt und half Elias, indem sie von innen an der Klinke zerrte.
»Jetzt!« Elias folgte Annie ähnlich mühsam, dann machten sie sich daran, die Tür von innen wieder zuzudrücken. Wenn sie Schwierigkeiten hatten, die Tür zu öffnen, dann galt das hoffentlich auch für Jäger.
Erschöpft sanken sie auf die Stufen, die hinunter in die Schwärze führten und blieben sitzen. Zu müde, um sich noch großartig zu bewegen. Irgendwo in der Ferne quiekte eine Ratte, Wasser tropfte. Ein kurzer Blick mit der sterbenden Taschenlampe zeigte, dass der Keller mindestens zur Hälfte unter Wasser stand.
»Lass uns einfach hierbleiben«, schlug Elias kraftlos vor. Einige Stunden mussten sie noch aushalten, in denen sie nicht aufgespürt werden durften. Zwei Drittel der Nacht hatten sie bereits geschafft.
***
»Hier, sieh«, flüsterte Annie. Elias schreckte aus seinem unruhigen Dämmerschlaf hoch, bereit zu fliehen oder zu kämpfen,