Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter. Elian Mayes
Elias hielt sie fest und weinte lautlos mit ihr.
»Kir, hier irgendwo müssen sie sein.«
Diese fremde Stimme so nah zu hören, brachte Elias zum Beben. Es musste die Stimme eines Jägers sein, denn wer sonst war mitten in der Nacht an der Oberfläche unterwegs? Ganz offenbar sprach er oder sie mit jemandem. Dass sie sogar zu zweit waren, war ihm bisher nicht klar gewesen. Sie mussten es also nicht bloß mit einem, sondern gleich mit zwei von ihnen aufnehmen. Er spürte, wie Annie zu zittern begann. Mit aller Mühe verkniff sie sich ein Schluchzen; Elias spürte, wie sie sich verkrampfte.
»Nicht nur irgendwo …« die zweite Stimme, eine männliche diesmal, klang geradezu schadenfroh und sogar noch näher als die erste. Gleich vor der Ruine, in der sie Zuflucht gesucht hatten. »… diesmal, Schwesterchen, bist du vorbeigelaufen. Sie sind hier drin.«
Ein Schatten erschien vor dem halb verfallenen Loch, das möglicherweise einmal eine Tür gewesen war. In der Dunkelheit konnte Elias nur die rot leuchtenden Augen des Jägers erkennen, der Rest seines Gesichts lag im Schatten. Gemächlich, fast schlendernd, betrat die Gestalt die Ruine, gefolgt von einer zweiten, kleineren.
»Diesmal entkommen sie uns nicht.« Der Jäger lachte. Zumindest klang dieses Geräusch in Elias’ Ohren danach. Annie gab ein ersticktes Wimmern von sich und drängte sich noch näher an ihn.
»Bringt denen eigentlich niemand bei, dass es unsere Lust auf Blut nur verstärkt, wenn sie jammern und weinen?« Wieder dieses Lachen. Kalt und gehässig.
Der Jäger trat einen Schritt ins Innere der Ruine. Dann noch einen. Er schien es nicht eilig zu haben. Wären die Klauen und die rot glimmenden Augen nicht gewesen, man hätte ihn für einen hageren Mann in Elias’ Alter halten können. Von Flügeln oder dergleichen keine Spur und auch die Reißzähne waren nicht so lang wie in den Geschichten – und dennoch eine unausgesprochene Drohung.
Seine Schwester folgte ihm ebenso entspannt, lehnte sich an die Wand. »Du darfst sie haben, Kiri. Nach deiner Pleite von vorhin gönne ich es dir.« Sie lächelte, als sie das sagte, und jagte Elias damit einen eisigkalten Schauer über den Rücken. Die beiden waren sich so sicher, wie diese Begegnung enden würde; und wenn er ehrlich war, glaubte auch er nicht daran, dass Annie und er diese Ruine lebend verlassen würden. Aber sie mussten es doch zumindest versuchen!
Mit jedem Schritt, den der Jäger auf sie zutrat, ging Elias einen zurück, zog Annie dabei hinter sich her. Sie presste verzweifelt die Hand auf den Mund, um kein verräterisches Geräusch von sich zu geben. Allerdings vermutete Elias, dass die Jäger nicht nur außerordentlich gut hören, sondern sie außerdem auch wittern konnten.
Plötzlich machte der Jäger einen Satz nach vorn. Elias schrie vor Schreck und stolperte rückwärts. Annie dagegen war wie erstarrt. Elias packte sie in letzter Sekunde, um sie mit sich zu ziehen. Gemeinsam prallten sie gegen einen Mauerrest, stürzten hinterrücks darüber und landeten im Staub. Das Lachen des Jägers erfüllte die Ruine, gab der Panik in Elias neues Feuer. Würde er mit diesem Lachen im Ohr sterben?
Fahrig tastete er auf dem Boden herum, suchte irgendetwas, womit er sich verteidigen konnte, und umklammerte das Erstbeste, das er in die Finger bekam. Mit einem verzweifelten Schrei schleuderte er es dem Jäger entgegen, der mit einem überraschten Japsen zur Seite auswich. Elias wich das Blut aus dem Gesicht, als er die Reaktion beobachtete. Hatte das Monster auch noch unfassbar schnelle Reflexe, ja?
Trotzdem griff er nach dem nächsten Gegenstand, ein kurzes Brett, und holte damit aus. Diesmal zielte er nicht auf das Gesicht des Jägers, sondern auf seine Beine. War aus der halbliegenden Position auch viel einfacher. Es krachte, als Holz auf Schienbein traf. Schmerzgeheul und ein paar üble Flüche folgten. Elias nutzte die Gelegenheit, um auf die Füße zu kommen. Auch Annie schien sich aus ihrer Starre zu lösen, denn sie tat es Elias gleich und gemeinsam suchten sie Schutz im hinteren Teil der Ruine.
»Jetzt hast du ihn wirklich wütend gemacht«, hauchte Annie verängstigt. Ein ungeduldiges Brüllen hinter ihnen bestätigte ihre Vermutung, doch Elias wollte davon nichts hören. Sie konnten nur dann überleben, wenn sie sich nicht von ihrer Angst leiten ließen und die Situation so gut wie möglich für sich nutzten. Halb blind im Zwielicht tasteten sie sich vorwärts, stießen irgendwann auf Widerstand.
»Verdammt!« Elias schlug mit der bloßen Hand auf die Wand ein, ignorierte den Schmerz, der darauf folgte. Selbstverständlich bewegte sich nichts. Es war massiver Stein. Hinter ihnen kamen der Jäger und seine Schwester immer näher und in der anderen Richtung versperrten Trümmer der heruntergebrochenen Decke den Weg. Sie waren tatsächlich in einer Sackgasse gelandet. Mit einem Mal war seine zuvor gefasste Entschlossenheit wie weggeblasen. Ohne Fluchtmöglichkeit waren sie verloren, denn einen Kampf konnten sie unmöglich gewinnen. Nicht gegen dieses Monster. Die Wogen der Panik schaukelten sich höher, rissen und zerrten an ihm. Am liebsten hätte er sich auf dem Boden zusammengekauert und geweint, bis es vorbei war.
»Hier geht es runter.«
Es war Annies Stimme, die ihn in letzter Sekunde von dem Abgrund wegriss, in den er zu stürzen drohte. Sie kauerte auf dem Boden und zog an seinem Arm. Elias duckte sich zu ihr und sah, was sie meinte: Die Trümmer der Decke waren auf den Zugang zum Keller gefallen. Wenn sie sich durch die Lücke quetschen konnten, wären sie vielleicht sicher.
»Versuch es!«, zischte er ihr zu. »Du bist kleiner als ich. Wenn du nicht durchpasst, passe ich erst recht nicht durch, aber wenn ich steckenbleibe, ist der Weg auch für dich versperrt.«
Sie nickte. Zumindest glaubte er, dass sie das tat. Er konnte die Bewegung gerade so erahnen. Im nächsten Moment war sie weg. Elias konnte sie noch hören, doch ihr Körper tauchte vollkommen in die Schwärze. Er wartete einen Augenblick, dann drückte er sich auf den Boden und versuchte, sich rückwärts durch die Lücke zu schieben, durch die Annie gerade verschwunden war. Es war wirklich verdammt eng, aber mit einem Mal flammte seine Hoffnung wieder auf.
»Ähm, Kiri, die hauen ab!«
Gleich darauf erlosch dieser Funke wieder. Die Jägerin sprang flink wie ein Fuchs an ihrem Bruder vorbei. Elias keuchte erschrocken und wollte sich die letzten Zentimeter durch die Lücke schieben, doch sie packte ihn an den Handgelenken und zog ihn zurück. Elias schrie.
»Nein!«
Doch so sehr er auch zog und zerrte, der Griff der Jägerin war unerbittlich. Kurz begegneten sich ihre Blicke – wenn man das in der fast völligen Dunkelheit so nennen konnte. Elias starrte regungslos vor Schreck in leuchtende, rote Augen, die tief in den Höhlen lagen, umrahmt von strähnigem, schwarzem Haar. Schatten, die nichts mit dem fehlenden Licht zu tun hatten, zeichneten dieses Gesicht. Entbehrung. Hunger. Das war es, was er sah, und dennoch konnte er kein Fünkchen Mitleid für sie empfinden. Nicht, wenn er derjenige sein sollte, der diesen Hunger stillen sollte.
»Worauf wartest du?« Der zweite Jäger, ihr Bruder, trat hinzu und ging neben ihr auf die Knie. »Wenn du’s nicht tust, mach ich’s.« Sein Blick, ebenfalls rot-glühend, durchbohrte sie beinahe und in dem Moment, als auch sie ihren Bruder ansah, nutzte Elias seine Chance und riss sich mit aller Kraft los. Die Jägerin reagierte sofort, griff blitzartig wieder nach ihm, doch diesmal fasste sie ins Leere; Annie hatte zur gleichen Zeit kräftig an Elias’ Beinen gezogen.
»Perfektes Timing«, ächzte er, als er neben ihr unsanft auf den Boden krachte. »Du hast echt was gut bei mir.« Elias rappelte sich auf und tastete in der Dunkelheit nach Annies Hand. Über ihnen brach wütender Lärm aus. Flüche wurden ausgestoßen und Elias war sich sicher, dass die beiden Jäger sich gerade gegenseitig beschuldigten.
»Lass uns verschwinden, bevor sie uns folgen.« Annie zog ihn vorwärts in die Dunkelheit, zückte nach ein paar Schritten ihr Exterra und schaltete die Taschenlampe an, die diese Bezeichnung kaum mehr verdiente. »Verdammt«, fluchte sie. »Mein Akku ist fast alle …«
Immerhin reichte das wenige Licht, um zu sehen, wohin man trat, dachte Elias, während er einem Rattenkadaver auswich und sich zu orientieren versuchte. Der Keller schien riesig zu sein, doch er war so zugestellt und teilweise verschüttet, dass es schwer werden würde, sich einen Weg hindurch zu bahnen. Er überlegte noch fieberhaft,