Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter. Elian Mayes
rannte noch ein gutes Stück weiter, dann erst wurde er langsamer. Wenn die anderen wollten, konnten sie ihn verfolgen – vermutlich roch man die Blutspur auf mehrere Kilometer. Aber Kiresh war sich sicher, dass Figh das nicht tun würde. Er hatte bekommen, was er wollte. Er hatte jemanden gedemütigt und obendrein noch eine Mahlzeit ergattert, ohne sich die Finger schmutzig zu machen.
***
Ziellos streifte Kiresh durch die Stadt, noch immer wütend über sich selbst, weil er sich seine Beute hatte abnehmen lassen. Irgendwann würde Figh noch sehen, was er davon hatte!
Aber, und diese Genugtuung blieb, er hatte nach einer gefühlten Ewigkeit wieder menschliches Blut kosten dürfen. Wenn er die Augen schloss, schmeckte er es noch auf der Zunge. Kiresh wusste, dass die Wahrscheinlichkeit gegen Null ging, dass er in dieser Nacht noch einmal solches Glück haben würde. Erst recht nun, da er auf die Ruinen beschränkt war. Es war ohnehin eine Rarität, in einer Nacht mehrere Jagden zum Erfolg zu bringen, aber in dieser Einöde aus Beton und Stahl war es umso unwahrscheinlicher.
»Kiresh? Bist du das?« Er hielt inne und suchte die Umgebung nach seiner Schwester ab. Es war eindeutig ihre Stimme, die er da gerade gehört hatte, aber entdecken konnte er sie nicht. Sie verstand es, wie kaum jemand sonst, sich lautlos zu bewegen. Zu Kireshs Leidwesen wohlgemerkt, denn so konnte er sich nie sicher sein, dass sie ihn nicht beobachtete.
»Wenn du mit mir reden willst, komm gefälligst raus«, murrte er gereizt und unterdrückte den Impuls, sich einmal suchend im Kreis zu drehen.
Sie landete nur wenige Meter vor ihm auf dem Boden, hatte vermutlich in einer der Ruinen gelauert.
»Wo ist die Beute?« Seray legte den Kopf schief und Kiresh warf ihr einen düsteren Blick zu.
»Figh hat mich auf dem Rückweg abgepasst.« Ein Knurren entwich seiner Kehle bei der Erinnerung. Irgendwann würde er sich rächen.
»Hab dir doch gesagt, dass das nicht funktionieren wird.« Seufzend ließ Seray sich in den Staub fallen. Sie war dünn. Schmaler als er. Eine ordentliche Mahlzeit hätte ihr nicht geschadet. Es wunderte ihn, dass es ihr so egal war, dass Figh und seine Leute in dieser Nacht zu essen hatten und sie beide nicht. Seray konnte tatsächlich als Rattenfängerin bezeichnet werden, ernährte sie sich doch die meiste Zeit von kleinem Getier. Es schien ihr nicht einmal etwas auszumachen. Das konnte er partout nicht verstehen.
»Wie kann dir das nur so egal sein?« Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte wütend vor ihr ausgespuckt.
»Es ist mir nicht egal«, gab sie scharf zurück. »Aber ich bin realistisch und mein Leben ist mir mehr wert als mein Stolz. Wieso bringst du dich für ein bisschen Blut und Fleisch so in Gefahr? Das ist die bessere Frage.«
»Ein bisschen Blut …« Kiresh schnaubte. »Wenigstens begnüge ich mich nicht damit, den Staub zu fressen, in den ich geschmissen wurde! Und was weißt du schon von Stolz? Rattenfänger! Figh hat recht: Das passt zu dir!«
»Dann bin ich eben ein Rattenfänger.« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber im Vergleich zu dir bewahre ich mir meinen Rest Würde und lasse mich nicht noch bloßstellen.«
»Würde?«, spie Kiresh verächtlich aus, machte einen ruckartigen Schritt auf seine Schwester zu. »Dieses Leben hat nichts mehr von Würde! Wenn du dich damit begnügst, dann bewahrst du dir nicht deine Würde, sondern du raubst sie dir selbst, weil du nicht darum kämpfst!«
Seray erwiderte nichts mehr, sondern funkelte ihn nur verbissen an. Richtig so, dachte Kiresh abfällig. Sie hatte doch keine Ahnung von einem würdigen Dasein! War noch dankbar darum, wenn man sie in den Straub trat! Hatte schon vor so langer Zeit aufgegeben und sich damit abgefunden, dass Figh und seine widerlichen Kriecher ihr vorgaben, wie sie leben durfte und wie nicht.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Wütend starrten sie einander an, bis Seray den Kopf senkte. Unter der Wut, die Kiresh spürte, stach dieser Anblick in seinem Herzen. Schließlich seufzte er. »Komm, wir finden etwas anderes …«
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, durchkämmten die Straßen und Ruinen nach irgendetwas, womit sie ihre Mägen füllen konnten. Irgendetwas, das sie über die nächsten Tage bringen würde. Doch es roch beinahe überall nach Mensch. Wie sollten sie in diesem olfaktorischen Chaos nur eine richtige Fährte finden? Missmutig kickte Kiresh einen Stein vor sich her. Allmählich verlor er die Lust und den Mut.
Bis plötzlich – er hob den Kopf und schnupperte. Was war das? Blut! Unvermittelt blieb er stehen und drehte sich zu seiner Schwester um, die ein Stück hinter ihm lief. »Riechst du das auch? Da ist irgendwo Blut.«
Seray hob spöttisch eine Augenbraue und musterte ihn von oben bis unten. »Ja, Brüderchen, das bist du. Du hast gekleckert beim Essen.«
»Quatsch, das meine ich doch nicht.« Ungeduldig verdrehte Kiresh die Augen und deutete in die Dunkelheit vor sich. »Ich weiß selbst, wie ich rieche, aber das ist anderes Blut!«
Sie glaubte ihm noch immer nicht, trotzdem schloss sie die Augen und atmete konzentriert ein. Dann stutzte sie und nickte.
»Du hast tatsächlich recht!« Sie ließ ihm nicht einmal die Zeit, über dieses Zugeständnis Zufriedenheit zu empfinden. Sofort sprintete sie los, sodass Kiresh sich bemühen musste, um mit ihr mithalten zu können. Wenn sie wollte, konnte Seray verflucht schnell sein. Gemeinsam jagten sie durch die Nacht, überwanden spielend leicht Mauern und Trümmer. Mit jedem Meter wurde der Geruch stärker und bald schon erreichten sie die Stelle, an der Blut am Asphalt klebte.
»Verdammt. Wieder nur eine tote Spur«, fluchte Kiresh und ließ sich frustriert fallen. Es passierte häufig, dass sich ein Mensch tagsüber verletzte und sie nachts dieser Fährte dann auf den Leim gingen. Dabei war er sich diesmal so sicher gewesen, eine echte Spur erwischt zu haben! Frustriert schlug er die Faust auf den Boden, ignorierte den Schmerz in seiner Hand und knurrte wütend. Ausgerechnet heute, nachdem Figh ihn so abgezogen hatte, musste sich eine vielversprechende Spur als Sackgasse erweisen. Seray jedoch runzelte die Stirn und schnupperte angestrengt in die Nacht.
»Da ist noch mehr«, murmelte sie leise und Kiresh verfolgte ungläubig, wie sie sich an der Wand entlang drückte und dann um die Ecke verschwand. Wollte sie ihn auf den Arm nehmen oder was sollte das?
»Kiresh! Nun komm schon!« Ihre Stimme zumindest klang nicht danach. Eilig sprang er auf die Füße und machte, dass er hinterherkam. Als er um die Ecke schlich, wurde der Blutgeruch tatsächlich intensiver! Sofort meldete sich sein Magen erneut. Der kleine Snack war nicht genug gewesen und die Hoffnung auf mehr hatte ihn wieder erwachen lassen. Sie erreichten ein verfallenes Gebäude. Unschlüssig blieb Kiresh stehen, als Seray einen Weg hinein suchte.
»Meinst du echt, dass sich darin was findet? Ich mein, abgesehen von den Ratten und irgendwelchen Straßenviechern, die ich nicht mehr sehen kann.«
»Ja, meine ich«, gab seine Schwester knapp zurück und schon war sie zwischen zwei Mauerteilen verschwunden. Kiresh zog die Stirn kraus, aber beschloss, ihr zu vertrauen. Was hatte er zu verlieren? Zielsicher setzte er die Füße zwischen die Trümmerteile, schlich vorwärts. Immer auf Serays Spur und dabei geräuschlos. Ebenso wie sie. Wäre ihr Geruch ihm nicht so vertraut gewesen, hätte er sie in der Schwärze verlieren können. Allmählich gewöhnten seine Augen sich zwar an die Dunkelheit, aber er zog es vor, sie zu schließen. Wenn er nicht gut sah, verließ er sich lieber auf seine übrigen Sinne.
»Hier geht es runter …«, hörte Kiresh sie murmeln und kurz darauf spürte er auch er den kühleren Luftzug. Dann fanden seine Zehen den Rand eines Lochs.
»Seray …?«
»Hier. Aber pass auf, wo du hintrittst.« Das ließ Kiresh sich nicht zweimal sagen. Bedächtig tastete er sich mit den Füßen vorwärts, machte einen vorsichtigen Schritt in das Loch und fand bald wieder Halt. Sein Herz beschleunigte sich, als der unvergleichliche Duft einer frischen Fährte ihm in die Nase stieg. So intensiv, dass sie unmöglich noch vom Nachmittag stammen konnte! Verdammt, seine Schwester hatte recht. Da unten musste sich ein Mensch verstecken.
»Kir? Ich glaube, ich