Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter. Elian Mayes

Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter - Elian Mayes


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tief, als Elias durch die Tore trat. Ihm blieb nicht einmal mehr eine halbe Stunde, wenn er Annie finden und wieder zurückwollte, bevor die Tore sich schlossen. Nun verfluchte er sich dafür, dass er kein Exterra besaß. Doch bisher war es nie nötig gewesen, sich außerhalb der unterirdischen Netzwerke auf weite Distanz verständigen zu können.

      Ohne Zeit zu verschwenden, spurtete Elias los. Zuerst die Ruinen absuchen, besonders die, in der sie sich oft gemeinsam aufhielten. Doch nirgends war eine Spur von Annie und die Schatten wurden unaufhaltsam länger. Mit wachsender Angst schlug Elias schließlich den Weg zum Park ein, Finjas neuer Lieblingsspielplatz.

      Schon nach der zweiten Biegung konnte er eine Silhouette ausmachen und je näher er kam, umso sicherer wurde er.

      »Annie!« Als sie sich zu ihm umdrehte, strömte Erleichterung durch ihn hindurch. Eilig schloss er zu ihr auf. »Annie! Hier steckst du! Was tust du um diese Zeit noch hier draußen? Gleich schließen die Tore!« Außer Atem kam Elias neben seiner besten Freundin zum Stehen. Sie rührte sich nicht, starrte angestrengt die staubige Straße hinunter. Fest in ihren schwarzen Parka gehüllt, einen dunkelroten Schal um die Schultern geschlungen, sah sie beinahe elegant aus, wären da nicht die Öl- und Erdflecken auf ihrer zerschlissenen Hose und die wirren, strohblonden Haare gewesen, die ihr in alle Richtungen vom Kopf abstanden.

      »Finja ist noch nicht wieder da«, hauchte sie und bestätigte so die Ahnung, die Elias gehabt hatte. In ihrer Stimme schwang Angst mit. »Sie wollte mit Celan zum Spielen nach draußen und ich … hab es ihr erlaubt.«

      Elias’ Herzschlag beschleunigte sich. Scheiße! Der Blick auf die Uhr sagte ihm, dass ihnen die Zeit davonrannte. Bald würde niemand die Stadt mehr betreten können. Wenn Finja dann nicht wieder da war – er wollte sich nicht ausmalen, was dann geschah.

      »Wir müssen sie suchen, komm!« Elias griff Annie am Arm, lief los und zerrte sie dabei einfach hinter sich her. Sie folgte ihm wie in Trance. Die Angst um ihre kleine Schwester war so groß, dass sie selbst kaum reagieren konnte. Er verstand sie. Wäre Finja seine Schwester gewesen, wäre es ihm nicht anders ergangen. Auch so fühlte er Panik aufsteigen. Er mochte die Kleine. Vor Kurzem erst war sie neun geworden und wusste eigentlich, dass sie bis zur Dämmerung wieder nach Hause zu kommen hatte. Aber was, wenn ihr etwas zugestoßen war? Wenn sie sich verletzt hatte und nicht mehr allein laufen konnte? Sie zu suchen, würde dauern und die Zeit wurde immer knapper. In dem Augenblick, in dem die Sonne hinter dem Horizont versank, würden sich die Tore schließen und somit auch der Zugang zur Stadt. Wenn das geschah, solange sie noch draußen herumstreunten, würden sie nicht mehr vor dem Morgengrauen hineinkommen. Ausnahmen gab es keine. Der Mann am Tor hatte das extra betont. Hieß im Klartext: Sie würden die Nacht an der Oberfläche verbringen müssen. Da konnte man sich auch gleich die Kugel geben und täte sich vermutlich noch einen Gefallen damit, denn nachts gehörte wie Welt den Jägern.

      Elias fluchte. Er vermochte sich nicht einmal vorzustellen, welche Vorwürfe Annie sich machte, ihre Schwester gehen gelassen zu haben. Ihr Gesichtsausdruck sprach jedenfalls Bände und immer wieder fuhr sie sich fahrig durchs Haar. Dass sie gerade nicht wirklich in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, verübelte er ihr nicht. Stattdessen nahm er es selbst in die Hand, zog sie weiter hinter sich her, in die Ruinen der Stadt hinaus.

      »Sie wollte in den Park, richtig?«, fragte Elias, obwohl er die Antwort kannte. Er wollte nur verhindern, dass Annie sich vollkommen ihrem schlechten Gewissen ergab. Dazu hatte sie später noch Zeit, wenn Finja wieder da war.

      »Ja«, brachte sie nur mühsam hervor. Dann, als wäre das ihr Stichwort gewesen, löste sie sich aus seinem Griff und eilte an Elias vorbei. Bis zum Park waren es noch gut zehn Minuten. Wenn man sich beeilte, konnte man ihn vielleicht in sieben Minuten erreichen. Annie rannte, als wären Jäger hinter ihnen her – und irgendwie traf das ja auch zu. Zumindest wenn sie länger noch hier draußen blieben. Nun war es Elias, der kaum hinterherkam. Die alten Hochhäuser flogen regelrecht an ihnen vorbei und nicht nur einmal stolperte er beinahe über ein aufragendes Asphaltbruchstück in der Straße.

      »Hast du den Patrouillen Bescheid gegeben?«, wollte Elias außer Atem wissen und keuchte, weil er nicht genügend Sauerstoff bekam, um seine brennenden Lungen zu füllen. Annie antwortete nicht, beschleunigte sogar noch weiter.

      »Annie!« Er musste einen Augenblick stehen bleiben, um Atem zu schöpfen und sich seine schmerzende Seite zu halten. Haltsuchend lehnte er sich an einer Hauswand an. So kamen sie nicht weiter, das war sicher. Sie mussten den Patrouillen Bescheid geben! Sofort! Elias wollte sich innerlich dafür ohrfeigen, dass er sie das nicht schon viel früher gefragt hatte. Aber auch diesmal reagierte sie nicht, sondern rannte einfach weiter. Mit einem frustrierten Aufschrei stieß er sich schließlich von der rauen Wand ab und nahm die Verfolgung wieder auf. Annie war wirklich verflucht schnell. Dass sie mit einem Mal vor dem verrosteten Tor des Parks standen, war eigentlich kaum ein Wunder. Annie war fast geflogen.

      Ohne Zögern stieß Annie das Tor auf, ließ die alten Angeln unangenehm quietschen.

      »Du gehst da entlang, ich in die andere Richtung«, kommandierte sie und wollte schon losgehen, da hielt Elias sie am Arm fest und zwang sie, sich umzudrehen. Er bekam noch immer kaum Luft.

      »Hast du den Patrouillen nicht Bescheid gegeben?«, fuhr er sie wütend an, denn auf den ersten Blick wirkte der Park vollkommen ausgestorben. Zwei kleine Kinder mochten sich vielleicht hier irgendwo herumtreiben, aber von den Elektrofahrzeugen der Wache war weit und breit nichts zu sehen. Annie sah ihn erst verwirrt an, dann entglitten ihr die Gesichtszüge.

      »Nein«, hauchte sie. »Daran habe ich nicht gedacht. Ich hatte nur Finja im Kopf und dann bist du aufgetaucht.«

      »Wieso hast du dann eben nicht auf meine Frage geantwortet? Das hätten wir zuallererst tun müssen!«

      »Warum hast du denn nicht früher gefragt?«, fauchte Annie zurück, während sie schon ihr Exterra aus der Hosentasche zog. »Daran hättest du doch genauso denken können!« Hektisch tippte sie den Notruf. Elias biss sich schuldbewusst auf die Lippe. Unrecht hatte sie nicht, zumal er ihr ja angesehen hatte, wie sehr sie neben sich gestanden hatte. Außerdem war mit Streit gerade niemandem geholfen. Während Annie versuchte, jemanden zu erreichen, machte Elias sich auf den Weg zur Mitte des Parks. Auch hier wirkte alles wie ausgestorben. Die verwilderten Bäume und zugewachsenen Wege, die ihm normalerweise so gut gefielen, empfand er in diesem Moment als Bedrohung. Zwischen den bemoosten Stämmen der uralten Wächter der Natur und unter ihren Wipfeln war es bereits so dunkel, als wäre die Sonne schon untergegangen, und die Schatten ringsum verursachten ihm ein mehr als nur flaues Gefühl im Magen. Elias schrie sich nach Finja beinah die Lunge aus dem Leib, aber eine Antwort bekam er trotzdem nicht.

      Je tiefer er zwischen den Bäumen verschwand, umso mehr bekam er das Gefühl, beobachtet zu werden. Konnte das sein? Lauerten die Jäger schon vor Sonnenuntergang und schlugen dann zu, sobald die letzten Strahlen verschwunden waren? Unwohl zog Elias die Schultern hoch, doch das Gefühl wollte nicht verschwinden. Es wurde immer stärker und drohte ihn zu ersticken.

      »Noch ist es sicher«, versuchte er, sich selbst Mut zu machen. Der Wind strich kalt über seine Haut, die Zweige der Bäume krümmten sich wie die Klauen eines Monsters. Elias schnappte nach Luft und stolperte zurück. Angst hielt sein Herz fest im Griff. Sein Fuß verfing sich an irgendetwas – ein Stein? Eine Wurzel? – und er stürzte. Elias stöhnte, blickte auf die Uhr. Noch dreißig Minuten. Zeit, zu verschwinden.

      Zu spät.

      Jemand näherte sich ihm. Der Himmel war schwarz. War es bereits Nacht?

      Elias schrie auf, als eine Hand ihn an der Schulter packte.

      Hektisch fuhr er herum und starrte in Annies bleiches Gesicht. Es waren ihre Schritte gewesen. Sein Puls beruhigte sich etwas. Doch auch ihr Gesichtsausdruck zeigte nichts anderes als Angst. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihn an, Tränen sammelten sich darin.

      »Was …?« Fragend sah er sie an, doch sie schüttelte kaum merklich den Kopf.

      »Sie sagen, es ist nicht ihre Aufgabe, die ausgebüxten Schafe am Abend wieder zusammenzutreiben und es muss jeder auf seine Bälger selbst Acht geben.« Hilflos


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