Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter. Elian Mayes
ein kleines Mädchen mit rotblonden Zöpfen und ein Junge im gleichen Alter durch den engen Türspalt quetschten. Hinter Elias seufzte auch Annie erleichtert auf, nur um die Luft kurz darauf scharf einzusaugen.
»Kannst du mir verraten, was du hier tust?«, fuhr sie ihre kleine Schwester an. »Wie kommt ihr überhaupt hier hoch?«
»Na so, wie du vermutlich auch.« Wenn die Kleine vom Tonfall ihrer Schwester eingeschüchtert war, zeigte sie es nicht.
»Ach ja? Und wie bist du Knirps an die Leiter gekommen?«
»Leiter?« Finja blinzelte irritiert. »Celan und ich gehen immer durch den Keller.«
»Keller?«, wiederholten Annie und Elias verdattert im Chor. Von einem Keller wussten sie nichts. Zumindest von keinem, der begehbar gewesen wäre.
»Ich bin nur hier hochgekommen, weil ich fragen wollte, ob Celan und ich ein bisschen im Park spielen dürfen?« Große Kinderaugen schauten bittend zu Annie hinauf, die schon zu einem Kopfschütteln ansetzen wollte, es sich dann aber doch anders überlegte.
»Ja, meinetwegen. Aber lauft nicht zu weit weg! Nicht, dass ihr am Ende nicht mehr zurückfindet oder euch jemand suchen kommen muss!« Ganz die große Schwester blickte Annie Finja streng an, während sie das sagte. Die Kleine nickte ernst, bevor sich ein freudiges Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, sie die Hand ihres besten Freundes schnappte und die beiden davonstoben. Annie sah ihnen nach, wie sie sich wieder durch die Tür quetschten, und Elias konnte die Sorge in ihrem Gesicht deutlich erkennen. Annie mochte es nicht, wenn ihre Finja, oder ihre anderen kleinen Geschwister, allein draußen unterwegs waren, selbst am Tag, aber ihr war auch klar, dass sie sie nicht einsperren konnte.
»Na komm, sie ist doch schon groß«, versuchte Caleb, sie zu besänftigen, und Annie nickte abwesend.
»Ich weiß, aber für mich ist sie noch immer klein.«
»Es sind doch auch Wachpatrouillen unterwegs. Die werden schon merken, wenn sie an ihnen vorbeizuschlüpfen versucht«, warf Elias ein und schenkte Annie ein Lächeln.
»Ja, ihr habt ja recht.« Mit einem letzten Blick zu der Tür, die inzwischen wieder ins Schloss gefallen war, gab Annie sich einen sichtbaren Ruck und setzte sich betont ruhig auf den Kasten.
* Kapitel 2 *
Elias lag auf seinem Bett, starrte mit unbewegtem Blick an seine Zimmerdecke. Eine Woche war inzwischen vergangen und er hatte noch immer keine Rückmeldung zu seiner Bewerbung erhalten. Allmählich lagen seine Nerven blank und zugleich musste er sich an den Gedanken gewöhnen, eine wichtige – seine einzige – Chance einfach vertan zu haben. Hätte er sich nicht für das Labor, sondern für eine Stelle mit besseren Erfolgschancen beworben, so würde seine Zukunft nun rosiger aussehen. Stattdessen winkte ihm der Abgrund. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Schächte, die Mülltrennungsanlagen, die Kraftwerke, die Stollen … All diese Jobs, die niemand freiwillig tun wollte, befanden sich tief unten, weit entfernt von der Zentrale und der Stadt. Dort würde er sich den Rücken krumm schuften, nur noch selten die Sonne sehen. Wenn er sie denn überhaupt noch zu Gesicht bekam. Je nachdem, welche Stelle ihm zugeteilt würde, würde er in Schichten von bis zu drei Wochen arbeiten müssen. Manchmal sah Elias sie früh morgens an den Haltestellen der Magnetbahn stehen: Jene, die ihr Dasein in der Dunkelheit fristeten. Ausgemergelte Gestalten waren das. Blass, mit tiefliegenden, blutunterlaufenen Augen.
Die Türklingel war es schließlich, die Elias aus seinen düsteren Gedanken riss. Irritiert sah er auf die Uhr. Er war zwar mit Annie verabredet, aber doch erst später.
»Erwartest du noch jemanden?«, fragte seine Mutter stirnrunzelnd, als Elias ihr auf dem Flur begegnete.
»Ja, schon, allerdings erst in anderthalb Stunden«, gab er zurück und öffnete. Doch statt in Annies Gesicht blickte er in das ihrer Mutter, das tiefe Sorge zeigte. Es standen ihr sogar Tränen in den Augen.
»Mrs Collins, was …« Doch weiter kam er nicht, denn sie fasste ihn links und rechts an den Armen und fiel ihm ins Wort.
»Annie und Finja sind noch nicht wieder zu Hause«, begann sie und ihr Griff verstärkte sich dabei, tat beinahe weh. »Du bist doch sonst mit Annie unterwegs! Weißt du irgendwas? Wo sie sein könnte, vielleicht? Ich habe solche Angst, dass den beiden etwas zugestoßen ist. Es wird doch bald dunkel an der Oberfläche.«
Ein Blick auf die Uhr verriet Elias, dass Mrs. Collins recht hatte. Es war nur noch etwas mehr als eine Stunde bis Sonnenuntergang. Normalerweise war Annie um diese Zeit schon lange zu Hause. Was, wenn sie draußen unterwegs gewesen und von den Patrouillen aufgegriffen worden war? Schließlich war es verboten, sich in den Ruinen herumzutreiben. Allerdings erklärte das nicht den Verbleib von Finja. Elias schluckte, drängte die böse Vorahnung zurück.
»War Annie schon zu Hause und ist nochmal weg? Oder geht sie an ihr Phone?«
Mrs Colins schüttelte den Kopf. »Nein … Ich meine, ich weiß es nicht. Ich kam ja gerade erst von der Arbeit und mein Mann kommt noch später nach Hause. Wenn ich versuche, Annie anzurufen, meldet das System, dass sie nicht erreichbar ist.«
Elias nickte abwesend, war mit den Gedanken schon wieder ganz woanders. Wenn Annie nicht erreichbar war, war sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch an der Oberfläche. Vielleicht hatte sie einfach die Zeit vergessen? Er hoffte, dass es so war. Sicherheitshalber schrieb er ihr eine Nachricht. Wenn sie durchkam, wusste er, dass Annie in Sicherheit war. Doch so lange konnte er nicht warten.
»Ich werde sie suchen gehen, Mrs Collins. Ich melde mich, wenn ich sie gefunden habe.«
Ihr gehauchtes »Danke« hörte er kaum mehr, schon hatte er sich eine Jacke geschnappt und war durch die Tür nach draußen gelaufen. Die vielen Stufen zum Aufzug registrierte er diesmal kaum. Er überwand sie, ohne darüber nachzudenken. Seine Gedanken waren nur bei Annie und bei der Angst, die auch er um sie hatte.
»Es gibt sicher eine einfache Erklärung dafür«, murmelte er leise. Immer wieder wiederholte er das, wie ein Mantra. Trotzdem beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Annie war sonst immer so zuverlässig und gewissenhaft – das passte einfach nicht zu ihr. Sie war diejenige von ihnen, die sich die Zeit des Sonnenauf- und untergangs notierte. Die lieber einmal zu viel mitschrieb als gar nicht. Elias lief noch schneller, erreichte den stehenden Aufzug und sprang hinein, kurz bevor die Türen sich schlossen. Gleich darauf schoss die Kabine nach oben.
Unruhig wippte Elias auf den Zehen, sah immer wieder auf sein Phone, aber wenn Annie wirklich noch an der Oberfläche war, erklärte das, wieso sie nicht erreichbar war. Gerade wollte Elias das Gerät wegstecken, da erhielt er eine Nachricht. Sie war von Caleb: »Hey! Nachher wie verabredet um acht am Poin’Z?«
Statt zu antworten, rief Elias ihn kurzerhand an. »Hey Caleb! Ist Annie bei dir? Sie ist nicht zu Hause und auch nicht erreichbar.«
»Ähm«, kam es von Caleb, »wir haben den Nachmittag auf dem Dach verbracht und sind zusammen runtergekommen, aber sie wollte nochmal kurz hoch. Wieso fragst du? Ist sie noch nicht wieder da?«
»Würde ich sonst fragen?«, gab Elias gereizt zurück. »Ich schau nochmal oben und melde mich.« Er legte auf. Unwillkürlich krampfte sich seine Hand zusammen. Er atmete tief durch, lockerte seinen Griff und sah zum wiederholten Male auf die Uhr. Schon so spät. Noch knapp eine Stunde bis Sonnenuntergang. Viel zu wenig Zeit.
Oben angekommen sprang Elias aus dem Aufzug und wandte sich dem Aufgang zu, der nach draußen führte, ohne sich vorher umzusehen.
Kopflos, voller Sorge um Annie, galt es nur noch, sie zu finden.
»He, du! Wo willst du hin? Gleich wird hier dichtgemacht!« Ein Mann in Uniform hielt ihn am Arm fest und zog ihn zurück.
»Das weiß ich! Aber ich hab etwas Wichtiges vergessen!« Elias wollte sich losreißen, doch der Griff des Wachmannes war fest. »Lassen Sie mich los! Ich werd’ schon rechtzeitig wieder da sein!«
»Wehe dir, wenn nicht! Du weißt, welche Konsequenzen drohen«, brummte der Mann und öffnete seine Hand. »Wir machen keine Ausnahmen.« Er funkelte Elias warnend