Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter. Elian Mayes

Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter - Elian Mayes


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Elias zu Hause ankam, entspannte er sich ein wenig. Die Termine in der ID-Stelle waren schon immer äußerst unangenehm gewesen und immer wieder hörte man Geschichten von Menschen, die danach verschwanden, weil ihre IDs aus irgendwelchen Gründen für invalid erklärt worden waren. Elias schüttelte diese Gedanken ab und ging in sein Zimmer, um seine Uniform abzulegen und gegen etwas Bequemeres zu tauschen. Der Wetterbericht hatte gutes Wetter vorausgesagt und deswegen hatte er sich mit seinen Freunden für einen Nachmittag an der Oberfläche verabredet.

      Annie und Caleb hatten ihm geschrieben, dass sie ihn abholen würden, daher legte Elias sich noch für eine Weile mit seinem Reader in den Händen auf sein Bett. Statt seichter Romane las er wissenschaftliche Artikel, denn einmal mehr hatte sich der kleine, unverbesserliche Optimist in ihm gemeldet. Der, der die Hoffnung noch nicht aufgegeben hatte, doch noch eine positive Antwort aus dem Institut zu erhalten.

      Elias war so vertieft, dass er das Schellen der Türklingel beinahe überhört hätte, wenn seine Mutter nicht nach ihm gerufen hätte. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen stemmte er sich hoch. Als er aus seinem Zimmer trat, stand Caleb bereits halb im Flur.

      »Hallo, Mrs Marquez«, begrüßte er Elias’ Mutter mir einem breiten Grinsen, während er an ihr vorbeimarschierte. Ihren missbilligenden Blick, der auf seine schmutzigen Schuhe gerichtet war, schien er nicht zu bemerken. Elias dagegen schon und so schnell er konnte, schob er seinen Freund wieder aus der Tür hinaus auf die schlecht beleuchtete Metallplattform.

      »Husch, raus mit dir, bevor du meine Arbeit hier zunichtemachst.« Elias deutete anklagend erst auf Calebs Schuhe, dann auf den Boden, den er am Vortag noch geschrubbt hatte.

      »Oh, sorry, Kumpel!« Caleb kratzte sich verlegen am Kopf und hüpfte dann noch ein Stück zurück.

      »Kein Ding, aber beim nächsten Mal kommst du putzen«, drohte Elias ihm und hob theatralisch den ausgestreckten Zeigefinger. Er verabschiedete sich von seiner Mutter, musste ihr wie immer das Versprechen geben, rechtzeitig wieder zurückzukehren, und schon machten sie sich auf den Weg nach oben.

      »Also, was habt ihr für heute geplant?«, fragte Elias die beiden. Annie, die an der Ecke gewartet hatte, zuckte die Schultern.

      »Keine Ahnung. Ich dachte, wir ziehen uns auf unser Dach zurück oder so. So viel bleibt nicht übrig, wenn man kein Geld hat.« Annie war die Realistin unter ihnen und leider hatte sie recht. Aber auch so würde es bestimmt ein schöner Nachmittag werden.

      »Wieso zum Henker wohnst du so am Arsch der Welt?«, fluchte Caleb, als er sich die letzten der Stufen zur nächsten Plattform am Geländer hochzog. Elias zuckte bloß die Schultern. Seiner Mutter konnte er kaum einen Vorwurf machen, dass sie so wenig verdiente und es nur für eine der tiefer gelegenen Wohnungen reichte. Für eine, bei der man zum nächsten Aufzug oder zur Magnetbahn erst einmal mindestens drei Plattformen nach oben und dann noch einmal zehn Minuten laufen musste. Er wollte sich aber eigentlich gar nicht beschweren, denn es gab durchaus Apartments, die noch weiter abseits lagen. Oder Menschen ohne ID, die gar keines bekamen und irgendwo in den vergessenen Tiefen der Stadt hausten.

      »Die Aufzugschächte sollen bald erweitert werden«, gab er atemlos zurück, während er die aufkommende Vorstellung, dass er selbst vielleicht bald irgendwo dort unten leben musste, vehement von sich schob. So weit würde es nicht kommen. Dann nahm er doch lieber einen Job im Schacht.

      Ihr nächster Halt war über den Dächern. Dort, wo sie sich frei fühlen konnten. Mit einem der Aufzüge fuhren sie ganz bis nach oben, um dann durch eines der gewaltigen Tore nach draußen zu treten. Fast einen Meter dick, schützten die Kolosse aus Stahl die Menschen vor dem, was in der Nacht an der Oberfläche lauerte. Bei Einbruch der Dämmerung wurden sie fest verschlossen, trennten die dahinter Lebenden von den Kreaturen, die bei Nacht jeden verschlangen, der es wagte, einen Fuß auf den Erdboden zu setzen. Daher hatten die Menschen die meisten Gebäude an der Oberfläche aufgegeben; es war schlicht zu gefährlich. Wie lange sie nun schon unter der Erde lebten? Das stand irgendwo in Elias’ Unterlagen, die er für die Geschichtsprüfung hatte lernen sollen. Leider zählte Geschichte nicht zu den Fächern, die ihn interessierten, deswegen hatte er keine Ahnung. Es musste aber schon eine Weile sein, denn die verbliebenen Gebäude waren zum Teil verfallen und man sah, wo die Natur sich ihrer wieder bemächtigte.

      Von den Toren aus war es nicht mehr sehr weit. Caleb führte sie schon bald an, denn er war der Größte von ihnen und ihm fiel es auch am leichtesten, die geheime Leiter hervorzuziehen und herunterzuklappen, die in den ersten Stock einer der Ruinen führte. Die Fenster und Türen des Erdgeschosses waren verrammelt und zugenagelt und auch die Leiter sollte eigentlich nicht dort sein. Sie hatten sie irgendwann hergebracht. Caleb reckte sich ein Stück, angelte mit der rechten Hand nach dem Fuß der Leiter, dann zog er sie ein gutes Stück über die Kante, bevor sie fast von selbst nach unten klappte. Wenn man nicht aufpasste, konnte man sie leicht auf den Kopf bekommen. Doch inzwischen waren sie geübt darin und so landete die Leiter sicher auf dem Boden. Zuerst erklommen Caleb und Annie die Streben, dann folgte Elias den beiden und schließlich zogen sie die Leiter wieder ins Innere des Gebäudes. Es war offiziell abgesperrt und auf eine Begegnung mit der Patrouille, die sich wunderte, wieso da eine Leiter an der Wand lehnte, verzichteten sie dankend.

      Nachdem es jahrzehntelang oder möglicherweise sogar länger leergestanden hatte, gab es hier eigentlich nichts Besonderes zu sehen, aber die Ruine selbst war auch nicht der Grund dafür, dass es ihr liebster Platz geworden war. Einer nach dem anderen erklommen sie Stufe um Stufe, Stockwerk um Stockwerk, bis sie das Dach erreichten. Elias kannte den Ausblick, hatte ihn schon viele Male zuvor gesehen und dennoch verschlug es ihm noch immer den Atem. Um sie herum war kilometerweit nur die Ödnis der Stadt und ihrer zerklüfteten Ruinen, durchsetzt nur von dem Grün jener Pflanzen, die sich trotz der Trockenheit ihren Lebensraum zurückerobert hatten. Doch das wirklich Atemberaubende an diesem Ausblick waren nicht die Reste der einst blühenden Metropole, sondern der Horizont. Irgendwo dort war es wirklich grün, da war wahre Natur, wie sie in den Filmen, auf den Holos und in den Readern zu sehen war. Wenn sie hier oben standen, dann konnten sie die Beweise dafür sehen, dass sie wirklich so gewaltig war, wie sie es nur spärlich zwischen den Ruinen zeigte. Zugleich hatte der Anblick aber auch etwas Trauriges für Elias, denn er wusste, er würde das Grün niemals aus der Nähe sehen dürfen. Der Weg war zu weit, um ihn an einem halben Tag zu Fuß zu gehen. Ja selbst mit einem Fahrzeug konnte es knapp werden, wenn man denn überhaupt eines auftreiben konnte, das noch mit Benzin oder Diesel lief. Und dann musste man noch den Treibstoff beschaffen. Unmöglich. An guten Tagen, wenn die Luft klar war, wie sie es im Winter sein konnte, konnte man sogar die weißen Spitzen der Berge sehen. Elias kannte ihre Namen, er wusste von Bildern, wie sie aus der Nähe aussahen, aber das war nichts gegen die Erhabenheit, die sie selbst auf diese Entfernung ausstrahlten. Was waren Bilder und Aufzeichnungen schon gegen die echte, lebendige Natur? Er konnte es nur ahnen.

      »Elias? Hallo?«

      »Was?« Elias erwachte aus seiner Bewunderung wie aus einer Trance und bemerkte erst da, dass Annie ihm eine Flasche entgegenhielt.

      »Ich hab dich gefragt, ob du auch was trinken willst.«

      »Ähm, klar, danke.« Ungeschickt nahm er die Flasche entgegen. Sie war nicht wirklich kalt, aber zum Glück auch nicht warm. Mit einem geübten Handgriff öffnete er die Flasche am dazugehörigen Kasten, den sie hier hinaufgetragen hatten und den sie austauschten, wenn er leer wurde.

      Sie saßen eine Weile schweigend da. Caleb hatte die Beine über den Rand des Daches geschwungen und ließ sie einfach baumeln. Etwas, das Elias nicht einmal beobachten konnte, ohne dass er schwitzige Finger bekam, denn dieses Dach war verdammt hoch.

      Plötzlich hörten sie hinter sich etwas rumpeln. Elias war der Erste, der erschrocken herumfuhr, als etwas an der Tür kratzte und an der rostigen Klinke rüttelte. Unwillkürlich ging er auf Abstand, wich ein Stück zurück, bis er gegen Annie prallte, die zur Salzsäule erstarrt war. Wenn sie hier jemand erwischte, saßen sie wirklich, wirklich in der Tinte! Kurz überlegte Elias, ob es Sinn ergab, sich hinter dem Aufgang zu verstecken, aber die Idee verwarf er rasch wieder. Spätestens, wenn die Patrouille den Bierkasten entdeckte, würden sie auch auf der anderen Seite des Treppenhauses suchen.

      »Annie?


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