Umbrae Noctis 1: Jäger und Gejagter. Elian Mayes
wenn die Situation nicht so bedrohlich gewesen wäre. Auf der anderen Seite des Raumes war auch diesmal eine Tür erkennbar. Sie schien verbarrikadiert zu sein, doch als Elias sich vorarbeitete, erkannte er im Schein der Lampe, dass sie aus Holz und der untere Teil bereits weggefault war. Der Weg lag frei. Durch dieses Loch kamen die Kleinen also auf das Dach, mutmaßte er, denn dahinter konnte er vage einen Tunnel oder einen Gang erkennen, der wohl einmal ein Flur gewesen sein musste. Er musste hinüber zur Ruine führen. Doch auch, wenn es lockte, war es vermutlich klüger, erst einmal an Ort und Stelle zu bleiben. Wer wusste schon, was da drin alles lauerte oder ob der Tunnel sich vielleicht verzweigte und sie nie wieder dort hinauskommen würden. Vielleicht nahmen die Jäger die Sache mit der Oberfläche ja auch ernst genug? Vielleicht waren sie hier unten sicher. Und selbst wenn sie es nicht waren, so war dieser Keller zumindest ein passables Versteck, schließlich hatten sie jahrelang nicht einmal von seiner Existenz gewusst.
In einer Ecke sank Elias an der feucht-kalten Wand hinab. Annie tat es ihm nach und vergrub dann den Kopf in den Armen. Die Unerschrockenheit, die sie auf dem mühsamen Weg herunter gezeigt hatte, fiel mit einem Mal von ihr ab. Sie begann zu zittern, ihre Schultern bebten und es brauchte einige Augenblicke, bis Elias begriff, dass sie weinte. Überfordert wandte er den Blick ab. Annie war nicht der Typ Mensch, der weinte. Entsprechend ungewohnt war es für ihn und er wusste damit nicht umzugehen. Schließlich legte er unbeholfen einen Arm um sie und sofort schmiegte sie sich an seine Brust und schluchzte geräuschvoll. Ob sie um Finja weinte oder um sich und ihn, konnte Elias nicht sagen, aber so oder so riss es ihn ebenfalls aus der Zuversicht, die sich seit Sonnenuntergang beständig mit anschwellender Panik und Hoffnungslosigkeit abgewechselt hatte. Auch er spürte nun Tränen in den Augenwinkeln und blinzelte sie weg. Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren. Doch dieser Entschluss hielt nicht lang; kurz darauf liefen auch bei ihm die Tränen. Nun saßen sie in diesem Keller, aber ob es die Mühe wert gewesen war, würden sie erst wissen, wenn die Sonne aufging und sie beide noch atmeten.
* Kapitel 3 *
»Kiresh! Jetzt komm endlich! Wenn sie dich erwischen, bekommst du großen Ärger!«
Genervt verdrehte Kiresh die Augen. Er war noch nicht fertig. Der Hunger quälte ihn noch immer! Zähnebleckend duckte er sich tiefer, obwohl er wusste, dass das unnötig war. Sie sahen ihn nicht in der Dunkelheit und sie hörten ihn erst, wenn es zu spät war. Sie, die Jäger waren die überlegene Spezies auf diesem Planeten. Sie waren die Götter, vor denen die Menschen ängstlich erzitterten und flohen. Ein hämisches Lächeln stahl sich wie von selbst in Kireshs Gesicht. Voller Vorfreude nagte er an der Unterlippe, konnte bald schon Blut schmecken, als die scharfen Spitzen mühelos durch seine Haut drangen. Der metallische Geschmack zeigte ihm, wie hungrig er noch immer war. Sein Magen knurrte. Viel zu selten war er satt und wenn er so kurz davor war, musste seine Schwester ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Ein Knacken im Gebüsch unter ihm ließ ihn erneut aufstöhnen. Da war sie schon wieder!
»Kiresh! Wir sollten gar nicht hier sein! Jetzt komm endlich!« Sie rief nicht, sie fauchte seinen Namen vielmehr und Kiresh ignorierte sie. Sollte sie doch vorgehen, er kam sehr gut ohne sie zurecht. Eigentlich kam er ohne sie sogar besser zurecht, denn sie wäre ihm sowieso nur im Weg mit ihrem Geschwätz über Regeln und Abkommen! Ein Rascheln im Laub verriet Kiresh, dass seine Schwester tatsächlich gegangen war. Die Anspannung löste sich und er wurde ruhiger, sein Atem gleichmäßiger, sein Herzschlag langsamer. Ohne seine Schwester im Nacken konnte er sich besser konzentrieren, noch besser die Körperwärme desjenigen fühlen, den er sich als Beute auserkoren hatte. Kein störender Pulsschlag, der seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Je schneller das Herz seines Opfers raste, desto ruhiger wurde sein eigenes. Es hatte Angst, geriet in Panik. Wusste, dass etwas im Dunkeln lauerte und dass es seine letzte Nacht sein würde. Das Lächeln in Kireshs Gesicht wurde breiter und unheilvoller. Er konnte deutlich hören, dass die Schritte seines Opfers es in seine Richtung trugen und damit ins Verderben. Kireshs Sinne schärften sich, jedes noch so kleine Rascheln erreichte seine Ohren und gleichzeitig filterten sie jene Geräusche heraus, die gerade nicht wichtig waren. Beinahe zärtlich strichen Kireshs Fingerspitzen über die raue Rinde des Astes, auf dem er kauerte. Er fühlte jede Erhebung. Sie alle waren so vertraut, dass ihn keine einzige überraschte. Darauf der kühle Tau, der an einigen Stellen schon zu Reif geworden war und so zum ersten Boten des Herbstes wurde. Und nach dem Herbst würde der Winter kommen. Die Jahreszeit der Jäger. Wenn die Tage kürzer wurden, wurden die Nächte länger. Der Winter war die dunkle Zeit. Dunkel war es auch jetzt, der Mond nicht zu sehen. Vollkommen lag er im Schatten. Kiresh liebte diese Nächte, wenn absolute Finsternis herrschte. Einzig Blutmondnächte standen noch höher in seiner Gunst.
Leises Weinen lenkte seine Aufmerksamkeit nun endgültig und vollständig auf sein Ziel. Andere hätten sich vielleicht davon erweichen lassen, nicht jedoch er.
»Finny …! Finny …!«, drang das Schluchzen an Kireshs Ohr. Der Kleine stolperte und fiel. »Finny …« Er blieb am Boden liegen, schlug die Hände vors Gesicht. Zitterte, bebte. Kiresh lächelte. Geschmeidig ließ er sich von seinem Baum ins feuchte Gras gleiten. Der Boden federte sanft unter seinem Gewicht, als er sich lautlos auf seine Beute zubewegte. Erst, als er direkt vor dem Jungen stand, bemerkte dieser ihn und schaute mit angstgeweiteten Augen zu ihm auf. Seine schmalen Schultern fuhren zusammen. Er erstarrte, als seine Augen Kireshs fanden. Nur sein flacher Atem zeugte davon, dass er lebte und keine Statue war. Wie langweilig, wenn er nicht einmal davonlief! Kiresh bedauerte es, auf seinen Spaß an der Jagd verzichten zu müssen, doch auch, als er dem Kleinen noch näher kam, machte dieser keinerlei Anstalten zur Flucht. Kiresh bleckte die Zähne und fuhr mit der Zungenspitze darüber. Die Lust, zu töten, die Vorfreude auf den Geschmack warmen, frischen Blutes – endlich einmal nicht sein eigenes – steigerte seine Aufregung immer weiter.
»Kannst du … kannst du mich zu Finny bringen?« Die zitternden Worte des Jungen ließen Kiresh irritiert stutzen. Schluchzer erschwerten es, ihn zu verstehen. Erbärmlich! Was sollte diese alberne Frage überhaupt? Kiresh ging in die Hocke, begab sich auf Augenhöhe, kam ihm noch näher. Der Kleine schien höchstens acht oder neun zu sein, eher noch jünger. Unwillkürlich fragte Kiresh sich, wie er hierher gekommen sein mochte, obwohl das eigentlich keine Rolle spielte, denn er würde so oder so sterben.
»Verzeih, Menschenkind, aber ich weiß nicht, von wem du sprichst und selbst wenn ich es wüsste – ich hätte keinerlei Interesse daran, dir zu helfen.« Kireshs Stimme war kaum mehr als ein raues Zischen und er war nicht sicher, ob der Junge den Inhalt dieser Worte begriff. Aber auch das war ihm vollkommen gleichgültig. Dieses Kind würde jeden Augenblick sterben, was kümmerte es ihn also, ob es verstand, wieso. Leider wusste Kiresh, dass seine Schwester recht hatte: Wenn er diese Beute für sich wollte, musste er sich beeilen. Bedauerlich, denn er liebte es, zu spielen, sich an ihrer Angst zu laben. Ihr Fleisch und ihr Blut sättigten ihn, aber erst ihre Furcht, ihr Flehen und ihre Schreie brachten ihm wahre Zufriedenheit. Darauf würde er in dieser Nacht verzichten müssen. Kiresh erhob sich, umkreiste seine Beute, ohne sie aus den Augen zu lassen. Die Augen des Jungen folgten ihm mit bangem Blick, sein Körper dagegen blieb starr vor Angst. Hin und wieder verloren die ängstlichen Augen sich im Nichts. Kein Wunder eigentlich, denn er konnte im Dunkeln vermutlich kaum etwas erkennen, sondern nur Vermutungen anstellen, wo Kiresh sich gerade befand. Es war zu einfach. Es war langweilig. Keine Herausforderung.
Drohend fletschte Kiresh die Zähne, machte sich bereit zuzuschlagen.
»Bitte … Ich …« Der Kleine weinte inzwischen so sehr, dass Kiresh kein einziges Wort mehr verstehen konnte. Es war ihm auch vollkommen egal. Als er vorschnellte, seine Zähne in den schlanken Hals und die ausgefahrenen Klauen in die Brust schlug, blieb das Hochgefühl aus. Krachend barsten Rippen unter seinem festen Griff, Blut sprudelte aus dem jungen Körper. Der metallische Geruch stieg Kiresh in die Nase, den warmen Schwall konnte er auf seiner Zunge schmecken. Es fachte seinen Hunger neu an und ließ ihn ungeduldig knurren. Wie lange hatte er darauf warten müssen?
Der kleine Körper wehrte sich. Immerhin etwas! Gurgelnd und röchelnd versuchte er zu schreien, wand sich noch eine Weile, doch bald schon, viel zu schnell erstarb jeglicher Widerstand. Sowie Kiresh das erste Mal einen Bissen herausriss und schluckte, wich das Leben aus ihm. Weit aufgerissen starrten seine Augen den Jäger an. In ihnen stand eine stumme Anklage, die Kiresh nur spöttisch