Die Forelle. Leander Fischer

Die Forelle - Leander Fischer


Скачать книгу
die Fliegen kleebewachsene Brachen hinter sich, die anschließende Straße unter sich und jenseits des Betons sich in eine geöffnete Kastanienblüte niederließen, die wir anvisierten, bewarfen, trafen, fernab vom Schuss jeglicher Gequatscheschrotflinten, die weder auf Ernstl zeigten noch ihn als Patrone einlegten und verfeuerten. Viel eher als zu schießen, schwiegen sie ihn so tot, als wäre er schon marod oder gerade gar nicht hier, sondern abgefahren nach Graz zu Frau Thalinger, wo er das Gros des Jahres zubrachte, Dutzende Kilometer weit weg von seinem natürlichen Habitat, das so gar nichts mit dem Dorf zu schaffen hatte, bestimmt nur durch Weißweinrausch und Strömungsschall und dekadenlangen sowie meilenweiten Steirer Nachhall: »Denk immer an die Ratte! Wodurch unterscheidet sie sich von der Maus?«, fragte Ernstl, und ich antwortete: »Na, durch den Schwanz.« – »Falsch«, sagte Ernstl, der nackte Schwanz sei nur Gestalt. Er habe keine Bedeutung. Die offenbare sich erst in der Bewegung. »Ein Greifvogel fliegt eine Maus an. Sie flieht oder stellt sich tot. Beides beschert ihr sicheres Ende. Eine Ratte stellt sich auf die Hinterbeine. Sie mandelt sich auf und kämpft. Ohne Schwanz könnten wir die beiden nicht unterscheiden. Und das ist überlebensunerlässlich für uns.

      In Graz damals warteten und wachten wir. Zum Verstummen brachte die rote Morgensonne den Nachtvogel. Franzosenvolle Kasernen suchten wir, fanden in den Hinterhöfen bröckchenweise Käse auf. Die Ratten wachten dort schon und warteten auf uns. Auf allen vieren schlichen wir die erdgeschossigen Fensterbretter entlang. Der müde Blick der Kasernenbesatzungsmacht schwebte über uns hinweg. Die Wachmannschaften übersahen uns, während wir an ihnen vorbeikrabbelten. So unähnlich waren wir uns nicht. Auch sie schliefen nicht, wachten über die Stadt. Sie warteten, was passierte im Land, in ihrem Viertel der Nation, ein nationales Viertel. Ein gutes Viertel warfen sie weg von jedem Stück Käse. Während es in der Kaserne nach Kaffee roch, näherten wir uns den Müllcontainern, die uns nährten. Der Gestank erhob sich dort aus der Nachtkühle und die Ratte fauchte schon im Hinterhof. Der Mond stand noch monsterhoch am Himmel und setzte die Ratte ins Licht. Doch drinnen, hinter dem Fenster, zwischen vier schützenden Wänden, verflucht, da standen sie. Unablässig linsten wir dorthin, wie ein Frosch, von unten nach oben, dass ja nur der Hals nah am Grund war, dass der Raubvogelblick hinwegging über unser Genick. Günstigen Winkel hielten wir, den Kopf unten, geduckt zum Kopfsteinpflaster, geköpft vom Fensterbrett. Wir und die Ratte blieben dem Franzosenblick entzogen, sie und wir und das Tier, alle unsichtbar. Nur die Schwaden vom Kaffeedampf sahen wir abgeschnitten unter der hohen stuckverzierten Kasernendecke. Da waren sie drin, in einer ehemaligen Kadettenanstalt, dann Ex-Gymnasium, humanistischer Art, alsbald Lazarett. Da stand kein Lazarus jäh wieder auf, bis die Besatzer darin wachten, Kaffee machten, echten, aus Angola. Wir krabbelten dahin, zu unserem Essenstisch, dem Kopfsteinpflaster vorm Müllcontainer. Dort war unser Platz, dort fiel etwas ab, manchmal sogar etwas Gewand, ein Latz, der Lendenschurz, gespannt um unseren Schwanz. Nur Knickerbocker hatten wir an, wie man dann später sagte, um den Amis weiszumachen, man habe was gemeinsam.

      Verstohlenen Blicks schlichen wir, den Kopf im Genick, an die Hauswand geduckt, dass die eh schon schorfverklebten Ellbogen und Knie wieder aufrissen, auf allen vieren, zum Hinterhof. Ah, François, schau mal da, lass die Ratte abknallen, hätten sie uns gesehen, Gewehre in Anschlag sofort, es wäre sogar verstehbar gewesen. Aber so aufmerksam waren sie nicht, ließen achtlos Käse übrig, den die Ratte witterte, auf den wir uns zubewegten, nur Vanillin und Schlagobers in Franzosennasen, wiewohl es bestialisch stank hier draußen, während sie dort drinnen todmüde wachten über dieses lebensmüde niedergelegte Land, das zum Himmel roch. So nah dem Pflaster, während der Franzos hocherhaben war, seine Flügel rümpfte, sich aufschwang in den Besitzerhimmel, kaffeedampfvoller Nase sah er nicht mal auf unsereins runter, sondern über uns hinweg, was für ein Glück, dieser gottverdammte Backstein, gleich geschafft. Das Heben, das Senken, das Abstellen, sich wieder Vorknöpfen und Zurbrustnehmen der Kaffeetassen, Geklapper von Frühstücksbesteck, seidenes Zurren vom Krawattenschürzen eines Gecks, quietschendes Wichsen schwarzgenagelter Stiefel, Oberstschimpfen über Espressoverbrühen, Filterkaffeeverschwendung, Parfumflakonzirpspritzverschlüsse. All diese Geräusche drangen aus den Fenstern, unter denen ich mich dahinbewegte, deckten unsere frühmorgendlichen Schritte zu, das Schuhu der Eule, inzwischen stumm, deswegen auch schon, das Fauchen, das Fiepen, eine Ratte, die sich von der anderen Seite hörbar an den Käse ranmachte mit ihrem Schwanz, der rund um das Stück herumscharwänzelte wie die Peitsche eines feisten Wächters, die sich flugs in eine Schlange verwandelte, als wäre der Schwanz das Lebewesen und die Ratte das Anhängsel.

      So standen wir uns im Hinterhof nebst dem Müllcontainer gegenüber, in der Mitte das Bröckchen Schimmelkäse, das wir beide einkreisten, somit einander näherten, wachsame Schritte, das Abtasten zweier Gegner, der Hinterhof der Ring, der Roquefort der Gewinn, allein der Name schon, Spott über uns, über Österreich, dort, ein Rokokofort, hier ein Müllhinterhof, wie Gott in Graz sie, während wir mit Ratten kämpften und sie uns übersahen. Nur wir schauten uns selber an, und zwar im Bild der Ratte, dieser bösartigen Viecher, wie sie auf allen vieren krabbelten, ihren Schwanz hinter sich herzogen, der so lang wurde, im Gleichschritt im Kreis, jeder seinen Radiant, die Ratte und wir, dass wir dem Vieh mit jedem Schritt zustiegen, dem roten Backstein den Rattenschwanzzirkel eingezeichnet, mehr als einmal keine Zehe entfernt vom Fußaufsetzen, davor, ihn plattzutreten, bevor der nackte Schwanz doch noch wegglitt mit diesem schrecklichen Schleifgeräusch, während wir weitergingen, die Ratte fixierten, den Schwanz übersahen, nur in die Knopfaugen starrten, die spitzen Zähne gewahrten, nicht achteten den Schwanz, der immer länger wurde. Wie Krabben krabbelten wir im Krebsgang beide unseren Radius haltend, stets dieselbe Umlaufbahn zum Roquefort wahrend, während am Himmel noch backsteinrot der Mond wohnte wie der Franzos in der Kaserne und der Nachtvogel auf seinem Ast, schon verstummt, dass die Ratte ihrer Sache sich ganz sicher fühlte, munter und frisch herausgeputzt das Fell, hochglanzpoliert ihre Augen, voller Achtung vor uns wandte sie den Blick keine Sekunde ab. Ihren Schwanz zog sie nach, ihr Fiepen erklang, ihre Krallen schabten, und dann, groß, so riesig, ein immenses Tier, sie stellte sich auf, hoch genug, Ton zu geben, Gestank zu riechen und sich daraus zu erheben, den Schwanz stolz zu tragen, und trotzdem unsichtbar, welch Graus, wie groß sie war, und doch klein genug, nicht zu sehen für den Franzos, der aus dem Fenster glotzte gen Alpen. Wir aber waren auf allen vieren, erniedrigt selbst vor der Ratte, dass wir sie packen wollten und treten, uns damit selber freistrampeln, aber barfuß waren wir, und diese spitzen Nagerzähne, die sie jetzt spitzte zum schlimmen Ende im Hinterhof.

      Noch nicht bereit, den Roquefort aufzugeben, unser Fußtritt ihn in hohem Bogen in Sicherheit zu schießen und sein Zerstieben in noch kleinere Bröckchen, wovon der größte flog davon in Richtung Müllcontainer. Wir sausten hinterher, wir, die Ratte, der Sichtwinkel riesiger, der Franzosenblick neigte sich, vom Fensterbrett fast schon zu sehen. Ein Schatten trat heran, schaute kaffeewach wohl durchs Hinterhoffenster, hörte sein Absatzklacken, der eigenen Sporen Scheppern, an der Schulter Epaulettensäuseln, nicht aber unsere Sohlen, nicht die Rattenkrallen, nicht uns johlen. Immer schneller, bei jedem Schritt geduckter, unvermeidlich kleiner wurden wir, je weiter wir uns entfernten vom Fenster, umso buckliger spurteten wir, stets flacher mit allen vieren am Boden auf den Käse zu, der da vorne lag, wartete im Sichtfeld der Wächter, und wir zunehmend schlimmer im Hintertreffen, das Nachsehen noch im Angesicht der Tiere zu haben. Dabei wurde ihr Schwanz stetig länger wie der Faden einer davonrollenden Zwirnspule auf Dielenboden, in den Ritzen das Klack-Klack-Klack dieser Krallen auf dem Backsteinboden, an dem unser Ohr fast schon auflag, dass wir es vibrieren spürten, das Schlenkern dieses Schwanzes, den wir langen mussten dringlicher noch als Roquefort. So viel an Vorsprung gewann sie mit jedem Satz, sprang weiter vor und wehte dieses Rattending durch die Luft, dass uns der Atem knappte und erst die Distanz zwischen uns, der Abstand unfassbar, die Strecke, fast wären wir drauf geblieben. Die Ratte schneller, kecker, dreckiger, die Ratte und der lange Arm, der Sprung, Strecken, schorfverkrustete Ellenbogen, in vollem Flug, Fingerspitze und letzter Schwanzzipfel, ihr haarscharfes Nahen einander, schon im Schließen die Hand. Ein Schatten glitt den Arm entlang und brachte eine Windböe, die alle Härchen das Glied entlang aufstellte, weiterwehend die Ratte zu Boden prackte mitten im Satz. Wir fielen voll auf die Schnauze, hatten nichts zwischen den Fingern, den letzten Augenblick noch im Schädel, den wir wieder wendeten hin zum Fenster. Ein fassungsloses Franzosengesicht, dem Müllcontainer zugewandt, ein Tohuwabohu aus Federn und Fell. Chaos, fliegendes Fell, Fiepen, Krallen, Hacken, ein Knäuel. Fast lag auf unserm Arm noch der


Скачать книгу